Das Leben ist groß
Alexander Kimowitsch. So ein Ausbruch großzügiger Anteilnahme von deiner Seite ist beispiellos. Ich hoffe, du nimmst keine Antidepressiva. Das wäre nicht gut für dein Spiel.«
»Ich nehme keine Antidepressiva.«
»Da bin ich aber erleichtert.«
Peter Pawlowitsch schniefte, und Alexander fürchtete stark – und vorübergehend –, er hätte zu weinen angefangen.
»Und du, Alexander? Willst du Kinder? Von deiner bezaubernden Frau – wie heißt sie doch gleich?«
»Nina.«
»Nina. Natürlich. Und?«
»Äh, nein.« Alexander hielt das Telefon an sein anderes Ohr. »Erst einmal nicht.«
»Verstehe. Du bist vermutlich viel zu beschäftigt.«
»Weshalb haben Sie angerufen?«
»Also.« Alexander hörte, wie Peter Pawlowitsch sich auf den geschäftlichen Teil des Gesprächs vorbereitete und seine Stimme von ihrem üblichen müden Sarkasmus befreite. »Ich weiß, wie sehr du dich für Technik interessierst. Du bist immer up to date . Mit Rufnummernerkennung und so weiter.«
»Hmm«, machte Alexander. Er schielte nervös zu der Stereoanlage hinüber.
»Wie du wahrscheinlich gehört hast, hat IBM einen Computer entwickelt, der Schach spielen kann.«
»Ich weiß«, sagte Alexander. Davon hatte er allerdings schon gehört.
»Big Blue, Deep Blue Sea oder so ähnlich. Er soll inzwischen sehr gut sein. Sie testen ihn schon seit Jahren. Er besiegt jeden. Sie programmieren jede denkbare Reaktion auf jeden denkbaren Zug in sein … was auch immer … sein Gehirn wahrscheinlich, und dann programmieren sie ihn so, dass er weiß, welcher Zug in jedem denkbaren Szenario der vielversprechendste ist. Im Wesentlichen tut er also, was dein Hirn wohl auch tun muss. Du bist auf genau dieselbe Sorte Reaktionen programmiert.«
»Ja, aber ich muss erst darüber nachdenken.«
»Dieses Ding denkt auch. Es denkt nur schneller. In, äh, Algorithmen, nicht? Was weiß ich, das ist nicht mein Fachgebiet. Jedenfalls wollen sie, dass du gegen ihn antrittst.«
»Sollte ich das?«
»Natürlich. Glaubst du, du kannst ihn nicht schlagen?«
»Ich weiß es nicht.«
»Er ist ein Haufen Röhren. Du bist der beste lebende Schachspieler der Welt. Die Jungs vom MIT sind bestimmt nicht dumm, aber für dich wird das eine Partie Tetris, meinst du nicht?«
»Wahrscheinlich. Woher soll ich das wissen?«
Ein Schweigen folgte. »Als du jünger warst, hättest du bestimmt nicht gezögert, weißt du.«
Alexander trat an das Panoramafenster. Draußen hatte sichSt. Petersburg in blaue und graue Falten gehüllt, in denen man die neuen Bauprojekte, die neuen Werbetafeln, die neuen Früchte einer sich rasch etablierenden neuen Kleptokratie nicht sah. Das war die Zukunft. Sie wollten, dass er gegen einen Computer antrat. Alexander hätte nicht gezögert, als er jünger war, aber er war nicht mehr jünger.
»Wenn ich verliere, ist es eine Katastrophe.«
»Wenn du verlierst, ist es gute Publicity. Aber du wirst nicht verlieren.«
»Ich weiß nicht.«
»Alexander«, sagte Peter Pawlowitsch fröhlich. Alexander konnte ihn beinahe lächeln hören. »Du vergisst, dass du der Weltmeister bist. Hab ein bisschen Selbstvertrauen.«
Alexander sollte sich an das Spiel so erinnern wie an den Rest des Jahrzehnts, wenn er überhaupt daran dachte, was selten geschah. Es tauchte verzerrt, bruchstückhaft vor seinem inneren Auge auf – die aufgeblasenen Backen des Mannes, der für den Computer spielte, die sich mit jedem bestürzten kleinen Atemzug aufblähten und wieder zusammensackten; das Schweigen der Zuschauer – ruhig, dann angespannt, dann fassungslos. Danach war da die erstaunte Grimasse Peter Pawlowitschs – Alexander hatte ihn oft überrascht, aber nie auf diese Weise. Dann erinnerte er sich an das fröhliche Geschnatter der MIT-Leute, der Internetenthusiasten, der IT-Journalisten – den Triumphalismus, mit dem alle fröhlich diese brandneue Form der Apokalypse begrüßten. Alexander wusste – noch während er spielte, während er verlor, während er in der Limousine auf dem Weg nach Hause war –, dass er mit diesem Abend würde umgehen müssen wie mit seiner Ehe. Er würde versuchen, nicht darüber nachzudenken. Er würde versuchen, die Details, die Abfolgen, die aufgetürmten Erniedrigungen zu vergessen.
Nina hatte das Ereignis online mitverfolgt, und als er nach Hause kam und sie dasitzen sah, die Beine unter sich eingeklappt, ihr seidenes Nachthemd im Mondlicht schimmernd (Nina trug soviel Seide, dass er sich fragte, ob sie irgendwo im Schrank
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