Das Leben ist groß
Wettstreit darum, wer ständigen Nachschub an Toilettenpapier und erschwinglichen Proteinen sicherstellen konnte, und diesen Wettstreit hatte Russland definitiv verloren. Sie brauchten keinen Schachspieler mehr als Standartenträger, und Alexander konnte sie nicht mehr so bloßstellen, wie er es früher gekonnt hatte. Sie stellten sich schon selbst genug bloß.
Manchmal richteten Nina und Alexander Partys aus, zu denen auch Peter Pawlowitsch kam, immer schlechtgelaunt und meistens allein. Er drückte sich in den Ecken herum und griff jedes Mal zu, wenn ein Tablett mit Häppchen in Reichweite kam. Alexanders Gefühle ihm gegenüber schwankten, je nachdem, wie er am entsprechenden Tag sein ganzes Leben sah. Manchmal war Peter Pawlowitsch für ihn der unverzichtbare Mittelsmann, der ihm das Überleben gesichert hatte – sie hatten eine parasitäre, bestenfalls symbiotische Beziehung gehabt, und Alexander wusste, er sollte dankbar sein. Dann wieder dachte er an sein Leben – seine riesige Wohnung, sein leeres Herz, seinen glänzenden Pokal, den die Putzfrauen jeden zweiten Tag vom Staub befreiten – und fragte sich, ob er nicht ein authentischeres Leben, ein authentischeres anderes Ich hätte haben können. Wenn er dann versuchte, sich dieses Leben vorzustellen, war da nichts – was hätte er denn anderes tun sollen? Vielleicht hätte man ihn eine Weile unterrichten lassen, wenn auch nicht in Leningrad. Er hätte nach Ocha zurückkehren können, umdort alle aussichtsreichen Talente zu fördern, die der Ort hervorbringen mochte, und er hätte den Status eines Jungen genossen, der draußen in der Welt etwas aus sich gemacht hatte, selbst wenn ein Rückkehrer nie so hochgeschätzt wird wie einer, der fortbleibt. Seine Familie wäre ganz fraglos stolz auf ihn gewesen, auch wenn sie vermutlich das Gefühl gehabt hätten, er hätte sich zu viel entgehen lassen, und wofür? Für irgendein vages Ideal, das ebenso unklar wie unerreichbar blieb. Das Leben war voller Unhaltbarkeiten, voller Unüberwindbarkeiten und Absurditäten; die Frage war nicht, ob man in seinem Leben irgendeine Form von Reinheit erreichen konnte (konnte man nicht), sondern ob man die Stolpersteine umgehen und sich mit den Voraussetzungen arrangieren konnte (der Staatsform, den eigenen Raum-Zeit-Koordinaten, der eigenen Sterblichkeit) und trotzdem etwas erreichte. Das hatte Alexander eine Zeitlang getan, und war Erwachsensein nicht immer so? War so nicht das Leben? War es nicht pure Realitätsflucht, wenn man sich dem zu entziehen versuchte? Natürlich konnte man passiven Widerstand leisten; natürlich konnte man protestieren. Aber war das nicht so ähnlich, als weigerte man sich, morgens aufzustehen, nur weil man wusste, dass man eines Tages sterben würde?
Aber trotz allem hätten sie sich natürlich gefreut, ihn wiederzuhaben.
Im Januar 1997 rief Peter Pawlowitsch bei Alexander an. Dank der Rufnummernerkennung – einer von Ninas neuesten Errungenschaften, die sie nutzte, um keine Anrufe ihrer jeweils gerade in Ungnade gefallenen Freundinnen beantworten zu müssen – leuchtete sein Name auf dem Display auf. Alexander zuckte zurück und wollte den Anruf ignorieren, doch dann gewann seine Neugier Oberhand. Er hatte seit Monaten nicht mehr ausführlich mit Peter Pawlowitsch gesprochen. Er fragte sich, ob er endlich etwas gegen seine Polypen unternommen hatte.
»Hallo, Peter Pawlowitsch«, sagte Alexander und genoss das darauf folgende verwirrte Schweigen.
»Rufnummernerkennung«, sagte Peter Pawlowitsch schließlich.
»Genau.«
»Sehr fortschrittlich von dir.«
»Das ist alles die Gattin.«
»Wie geht es der Gattin?«
»Fabelhaft, wie immer.«
Alexander versuchte sich zu erinnern, ob Peter Pawlowitsch verheiratet war. Vor ein paar Jahren war auf einer der Partys eine Frau aufgetaucht, das wusste er noch – sie war zierlich, rauchte Kette und lächelte und schien Pawlowitsch sehr glücklich zu machen. Alexander wusste nicht, ob sie eine Ehefrau gewesen war, eine Geliebte oder Partnerin oder eine Bekannte, um die Peter Pawlowitsch erfolglos warb. Er vermutete Letzteres.
»Sind Sie verheiratet, Peter Pawlowitsch?«
»Ich war es. Danke der Nachfrage. Sie ist vor drei Jahren gestorben. Speiseröhrenkrebs. Ging ganz schnell.«
Alexander erschauderte. »Tut mir leid.«
»Bestimmt liegt die Beileidskarte schon in der Post.«
Alexander hüstelte sich einen etwas sanfteren und demütigeren Tonfall zurecht. »Haben Sie Kinder?«
»Oh, aber nein,
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