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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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eine ganze Seidenraupenarmee besaß), wusste er, dass sie gerade dabei gewesen war, die Ergebnisse, die Analysen, die obsessiven Spekulationen im Internet zu lesen. Die Details verstand sie vielleicht nicht, aber der Tonfall – die Schlagzeile, das Fazit – war unmissverständlich.
    »Es tut mir leid, Alexander.« Sie klappte rasch den Computer zu.
    »Ja.« Er ging geradewegs zum Wandschrank und goss sich ein Wasserglas voll Whiskey ein.
    »Es tut mir wirklich leid.«
    Alexander dachte über Eiswürfel nach, entschied sich dann aber dagegen. »Mir tut es auch wirklich leid.«
    »Willst du mit mir darüber reden?«
    Er wollte nicht mit ihr darüber reden. Er wollte mit niemandem darüber reden. Er wollte nicht einmal mit sich selbst im Stillen darüber reden. Jeder, der zugesehen hatte, hatte es verstanden. Was gab es da noch zu reden? Niemand würde dieses Ding je besiegen. Niemand würde je wieder mit einem Abakus Zahlen addieren. Und durfte er das bedauern? Wer würde schon bedauern, dass die Geschichte voranmarschierte, dass Fortschritte gemacht und Probleme gelöst wurden? Ja, ja, ein bisschen Romantik war verloren, seit der gesamte Erdball kartographiert war, aber trotzdem. Man konnte nicht dagegen sein; das war, als würde man sich wünschen, dass jedes winzige Dorf seine unübersetzbare, nutzlose Sprache und seine grauenhaften sanitären Gewohnheiten behielt, nur damit man hinfahren und es sich anschauen und denken könnte, wie authentisch und malerisch es sei. Alexander hatte durchaus ein Ego, aber nicht so eins. Er würde nicht fordern, dass die Welt weniger können sollte, nur damit er am meisten konnte.
    »Du siehst furchtbar aus«, sagte Nina.
    Er schenkte sich nach. »Mir geht’s gut.«
    »Du siehst aus, als würdest du dich gleich umbringen.«
    »Werde ich nicht.«
    »Oder mich.«
    »Keine Sorge.«
    Nina ging zur Couch und zog von irgendwo eine Nagelfeile hervor. Alexander füllte sein drittes Glas. Auf der Couch fing Nina lebhaft zu feilen an, und er sah ihr eine Weile dabei zu. Er würde nie begreifen, wie sie es schaffte, sich nicht in die Finger zu feilen. Alexander setzte sich an den Computer.
    Nina blickte hoch. »Du brauchst die Sachen über das Spiel nicht nachzulesen.«
    »Hatte ich nicht vor.«
    »Wirklich nicht.«
    »Hatte ich wirklich nicht vor.«
    »Da stehen Sachen, die du gar nicht wissen willst.«
    »Verdammt, Nina!«, brüllte Alexander. »Ich weiß!«
    Sie sah ihn mit vor Mitgefühl feuchten Augen an. Er war nicht sicher, ob er je zuvor Mitleid an ihr wahrgenommen hatte. Aber er wusste genau, dass es ihm nicht gefiel.
    »Wirklich, Sascha«, sagte sie. »Es ist nur ein Spiel.«
    Danach folgte eine Phase der Entspannung – es musste sie gegeben haben. Ein paar betäubte Jahre, ein Eingeständnis der Entfremdung, das merkwürdigerweise mehr Wohlwollen mit sich brachte. Als er aufgehört hatte, Nina zu seiner Frau machen zu wollen, wusste er sie besser als eine Art Freundin zu schätzen; als jemand, für den und mit dem er gern Geld ausgab. Es gibt ebenso viele Facetten der funktionierenden wie der gescheiterten Ehe, und ihre Ehe, glaubt er jetzt, hat funktioniert. Er weiß es, weil er sicher ist – absolut sicher –, dass er am Tag des Sprengstoffattentats liebevoll zu Nina hinübersah.
    Es war der letzte Augusttag 1999, und sie verbrachten das Wochenende bei Freundinnen von Nina in Moskau. Er wartete auf Nina, die in einem Laden am Manegeplatz Schuhe anprobierte. Er stand draußen und beobachtete sie durch das Schaufenster – er sah die strenge Linie ihrer gerunzelten Brauen, als sie ihre porzellanzarteFerse in ein Folterwerkzeug von einem Schuh zu zwängen versuchte – und er weiß, dass es ihnen beiden besser gegangen sein muss, weil er noch weiß, dass er sie bewunderte, dass er daran dachte, wie schön sie war, und dass er stolz war, eine so anspruchsvolle Frau zu haben, die genau wusste, was sie von einem Schuh erwartete. Gestreiftes Licht sickerte durch das Schaufenster hinein. Nicht weit von ihm entfernt kreischte ein kleines Mädchen auf einem Fahrautomaten aus Plastik – einem blauen, schnurrbärtigen Walross, das sich langsam auf und ab bewegte –, und Alexander fand, dass die Welt gut sei. Sie hatten vor, später Sushi zu essen und den Rest des Abends in einem Nachtklub zu verbringen, und Alexander freute sich auf seine Sashimi und seinen Vollrausch. Das Licht im Laden berührte Ninas Haar, und es leuchtete beinahe golden. »Mama, Mama, Mama, es ist ein Walross!«,

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