Das Leben ist groß
schrie das Kind auf dem Fahrautomaten.
Und dann war irgendwie das halbe Gebäude nicht mehr da. Das Licht war nuklear, der Lärm zyklonisch – und alles, alles schien kurz nach dem Moment zu passieren, als Alexander sich bei seinem Aufprall auf dem Boden das Schlüsselbein brach. Nina taumelte aus dem Laden, den Fuß noch in dem unbezahlten Schuh. Dem kleinen Mädchen neben ihm fehlte die Hälfte einer Hand. Ihr Mund stand offen, vermutlich, weil sie schrie, und Alexander war schon den halben Weg zu ihr hingekrochen, ein Fegefeuer des Schmerzes in der Brust, als er begriff, dass er nichts mehr hörte.
Sein Gehör kehrte im Laufe des Tages zurück, und das kleine Mädchen überlebte, und nur ein Mensch starb. Sie kehrten nach St. Petersburg zurück, und Alexander schaltete den Fernseher an, um zu sehen, was als Nächstes geschehen würde.
Eine Woche darauf traf es Buinaksk, dann wieder Moskau, dann Wolgodonsk – Einkaufspassagen, Schnellstraßen, Wohnhäuser. In den Wohnhäusern zündeten sie die Sprengsätze nachts, um die Zahl ziviler Opfer zu maximieren. Die Regierung gab den Anschlag in Buinaksk bekannt, zwei Tage bevor er geschah, was Alexander persönlich beleidigend fand: Ein Regierungskomplott, wenn esdenn eins war, sollte zumindest professionell durchgeführt werden. »Siehst du das, Nina?«, rief Alexander von der Couch aus und fuhr zusammen. Das Atmen tat ihm noch weh. »Interessiert es dich überhaupt?«
»Was hast du, Alexander? Brauchst du mehr Kodein?«
Auf der Couch heilte Alexanders Schlüsselbein, aber er blieb sitzen und sah weiter fern. Er sah, wie die Tschetschenen beschuldigt wurden; er sah, wie der zweite Tschetschenienkrieg begann. Er sah die Kriegstreiber in die Duma einziehen und sah Putin – Jelzins rückgratlos-selbstgefälligen Ministerpräsidenten, der bloß KGB-Oberstleutnant war – zum Präsidenten aufsteigen. Er sah, wie die Regionalwahlen abgeschafft wurden.
»Alexander.« Nina hustete. »Meinst du nicht, du solltest ein bisschen Sport machen gehen?«
Alexander hasste Putin mit einer Inbrunst, die sich persönlich anfühlte. Wenn er an die anderen dachte – an Breschnew und die Riege hinfälliger, taumelnder Greise danach –, erinnerte er sich nicht, je so intensiven Hass verspürt zu haben wie Putin gegenüber. Putins erste Amtshandlung bestand darin, die sowjetische Nationalhymne wiedereinzuführen. Als Alexander nach neun Jahren die Melodie wiederhörte, sah er Elisabeta unter dem Applaus der Bürokraten den Mittelgang hinunterschreiten und musste sich beinahe übergeben.
»Alexander«, sagte Nina, »meinst du nicht, dass du das alles ein bisschen zu ernst nimmst?«
Nach dem Anschlag – nach dem Anblick von arteriellem Blut auf dem blauen Pinguin-T-Shirt des kleinen Mädchens und nachdem er über den zerborstenen Marmorboden zu ihr gekrochen war – war er weniger duldsam seinem eigenen Lebenswandel gegenüber. Nina bewegte ihn dazu, seine alten Gewohnheiten wiederaufzunehmen, aber sie verfingen nicht mehr. Der Kaviar blieb ihm im Hals stecken. Die Nächte in den Klubs erschienen ihm leer. Er musste mehr und mehr an Iwan denken und daran, wie Iwan sein Leben geführt hätte, hätte er denn überlebt. Iwan hätte sich nicht ein Jahrzehntlang mit dem Regime arrangiert. Iwan hätte nicht die Anfangsjahre der Demokratie damit zugebracht, sich mit je einer gleichgültigen Schönheit links und rechts im Whirlpool langsam pochieren zu lassen. Jeden Morgen stand Alexander auf, sah in den Spiegel und versuchte sich daran zu erinnern, wer er gewesen war, als er mutig war.
Seine Freunde – seine reichen Freunde, denen der Kaviar noch schmeckte – sagten, wenn ihm das alles so wichtig sei, solle er sich hinter die gerade neuaufgekommene Reformbewegung stellen. Schließlich war er ein Nationalheld, die Ikone eines Spiels, das reiner war als die Religion und eleganter als jeder Sport. Er hatte Geld. Wenn er Ideen hatte, konnte er eine echte Persönlichkeit werden. Hatte er denn Ideen?
Ja, die hatte er, wenn sie auch vage waren – er war unternehmensfreundlich, gegen Korruption, für Transparenz, für Bürgerrechte. Er war ein Kapitalist. Ein Realist. Aber zunächst wollte er ein Netzwerk oppositioneller Gruppen unterstützen – den Aufbau einer breiten Opposition hielt er für den ersten und wichtigsten Schritt –, und er begann damit, jeden zu kontaktieren, der gewillt war, öffentlich Widerstand zu leisten, seien es ernsthafte Reformer, Verschwörungstheoretiker,
Weitere Kostenlose Bücher