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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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wenig unberechenbar anzusehen. Er war nicht puritanisch; er erstickte nicht jeden Widerspruch im Keim. Zeitungen gegenüber war er tolerant, großherzig fast. Die symbolträchtigste von ihnen, die Nowaja Gaseta , war besonders vorlaut – selbst nach dem Tod Anna Politkowskajas –, wobei Alexander sicher war, dassPutin es nur zuließ, um sich den Anschein demokratischer Glaubwürdigkeit zu geben. Bestimmt brachte er das Blatt nach Brüssel mit und sagte: Seht ihr? Seht ihr, was ich sie über mich schreiben lasse? Aber wo es wirklich zählte, griff Putin hart durch, und was wirklich zählte, war das Fernsehen. Alexander hatte einmal bei einer Konferenz Seite an Seite mit einem in Ungnade gefallenen Wirtschaftswissenschaftler einen Vortrag gehalten, und als er sich die Übertragung im Fernsehen ansah, hatte man den Unglücklichen digital ausradiert – seine Hände waren noch da, sein geisterhafter Schatten, aber sein Kopf und seine unbequemen Worte fehlten. Und es war nicht bei pubertären Kraftmeiereien geblieben. Einmal war Alexander von dem Klang berstenden Glases und einem Übelkeit erregenden dumpfen Aufprall auf dem Boden aufgewacht. Als er nachsah, fand er in einem Plastikbeutel eine blutige menschliche Ohrmuschel.
    Nach diesem Ereignis bat ihn Nina, das Alternative Russland aufzugeben oder zumindest um Himmels willen das Hauptquartier nach außerhalb der Wohnung zu verlagern.
    »Ich weiß, dass du das hier tust, weil du damals mit der Partei zu tun hattest«, sagte sie. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und beugte sich vor. Er sah den flackernden Pulsschlag an ihrem Hals. »Und du sollst wissen, dass du überhaupt keinen Grund hast, dich schuldig zu fühlen.«
    »Habe ich nicht?«
    »So war es damals. Das waren andere Zeiten. Jetzt ist doch alles vorbei.«
    »Ist es das?«
    »Du hast uns alles so schön eingerichtet, Alexander.«
    »Schön für wen?«
    Sie lehnte sich zurück. »Oh, bitte. Für uns beide natürlich. Magst du die Wohnung etwa nicht? Oder deine Geräte?«
    »Es sind deine Geräte.«
    »Du bist ein wohlhabender Mann. Du bist wohlhabend und einflussreich und gefragt.«
    »Vom FSB vielleicht.«
    »Und wenn du mit deinem Leben unzufrieden bist, hast du die Möglichkeit, es zu ändern.« Er spürte das Unglück, das von ihr abstrahlte.
    »Genau das habe ich vor.«
    »Bist du in der Midlife-Crisis?«
    »Hör auf, mich zu analysieren.«
    »Machst du das, weil du gegen den Computer verloren hast?«
    Er schlug mit der Faust gegen die Wand, wenn auch nicht so fest, dass es der Wand oder seiner Faust geschadet hätte.
    Nina gab nicht nach. »Wenn du dir die Hand brichst, schreiben sie in der Zeitung darüber.«
    »Hör auf.«
    »Ich bin hier nicht diejenige, die analysiert.«
    »Hör verdammt noch mal endlich auf, bitte.« Nina feilte weiter ihre Fingernägel. Er sah sie an, und er staunte über das paradoxe Gefühl, jemanden so genau zu kennen, wie er Nina kannte – zu wissen, wie ihre Zehen aussahen, wenn sie die Zehennägel zu lang werden ließ (was Nina allerdings fast nie tat), wie ihr Husten in der Dusche widerhallte, wenn sie krank war, wie ihr Gesicht aussah, wenn es nach dem Erwachen blass und ausgezehrt war – und sie zugleich wirklich, wirklich gar nicht zu kennen. Er dachte an Situationen auf Partys und Empfängen zurück, wo er sie aus dem Augenwinkel gesehen hatte, in Licht oder Schatten gehüllt, und sich gesagt hatte, was für ein Mysterium sie war – diese Person inmitten von drei Pfund Neuronenmasse, was auch immer, wer auch immer sie war, unergründlich, unerreichbar und nicht weniger rätselhaft, nur weil Alexander nicht an außerphysikalische Kräfte glaubte.
    »Du grübelst so viel in letzter Zeit.«
    »Ninotschka«, sagte er. »Du bist sträflich naiv, sträflich schizophren, wenn du bei alledem nicht ins Grübeln kommst.«
    »Ninotschka mag ich nicht, weißt du. Es klingt herablassend.«
    Das musste man Nina lassen: Sie konnte ihn immer noch überraschen.Allerdings konnte er selbst sich auch immer noch überraschen, nach so vielen Jahren, die er sich schon kannte (und vielleicht niemanden sonst; vielleicht hatte er das nie).
    Drei Wochen darauf gab er seine Absicht bekannt, sich als Präsident der Russischen Föderation zur Wahl zu stellen.

KAPITEL 14
    Irina
    St. Petersburg, Dezember 2006
    Am Samstag fuhr ich mit der Metro Richtung Innenstadt. Eine strenge, blecherne Lautsprecherstimme ermahnte die Fahrgäste, dem Gostiny Dwor fernzubleiben, also wusste ich, dass ich auf

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