Das Leben ist groß
Phrasendrescher oder linke Spinner. Bei den ersten Versammlungen tauchten regelmäßig Bilder von Trotzki neben Zitaten von Milton Friedman auf. Sie gaben sich den Namen Alternatives Russland.
»Ich mag es nicht, wenn sie hier drin rauchen«, sagte Nina.
Zu Anfang redeten sie nur. Sie waren sich einig, dass die postkommunistische Kleptokratie in mancher Hinsicht nur unwesentlich besser war als die wankende Inkompetenz des untergehenden Kommunismus – und in anderer vielleicht schlimmer. Sie waren sich einig, dass die Indifferenz des Regimes so kaltschnäuzig war, dass man sie fast schon nicht mehr Indifferenz nennen konnte. Im Laufe der Zeit lieferte ihnen Putin weitere Gesprächsthemen. Nach den Sprengstoffanschlägen kamen die im Stich gelassenen Matrosen der Kursk, eines Atom-U-Boots, das während Putins erstem Sommer im Amt leise in der Barentssee versank. Später wurde ausden Aufzeichnungen, die sie auf ihren eigenen Körpern hinterlassen hatten, deutlich, dass einige von ihnen tagelang überlebt hatten, während der Kreml darauf bestand, sie seien längst tot, während Hilfsangebote aus Norwegen und Großbritannien ignoriert wurden, während Putin seinen Strandurlaub fortsetzte.
Dann waren da die als Geiseln genommenen Theaterbesucher, die im Herbst 2002 einem grauenhaft verpfuschten Befreiungsversuch zum Opfer fielen. Sie waren, von staatlich verabreichtem Morphium halb erstickt, aus dem Gebäude gekrochen und im Schnee gestorben, weil der Kreml es versäumte, Notärzte zu rufen. Alexander sprach bei den Treffen des Alternativen Russland darüber. Er sprach auch außerhalb häufig davon.
»Hör auf, dauernd über solche Sachen zu reden«, sagte Nina. »Du bist total morbide.«
»Ich bin nicht morbide. Das Leben ist morbide. Die Realität ist morbide. Unser Regierungssystem ist morbide.«
»Wenn du noch ein Mal ›unser Regierungssystem‹ sagst, sterbe ich vor Langeweile.«
»Bitte, nur zu.«
Im Jahr 2004 kam dann die Geiselnahme von Beslan: Schulkinder wurden tagelang gefangengehalten und starben, als die Regierung die Schule mit Panzern und Aerosolbomben stürmen ließ. Ein Jahr darauf zogen die Eltern der toten Kinder nach Moskau und forderten ihre eigene Festnahme – sie hatten Putin gewählt, sagten sie, und waren damit mitschuldig am Tod ihrer Kinder.
Obwohl Alexander gut im Rechnen war – gut im Abwägen der Konsequenzen rational egoistischen Handelns –, konnte er das alles nie ganz begreifen. Was hatte der Staat davon, Hunderten dabei zuzusehen, wie sie sich in Moskaus Prunkstraßen würgend auf dem Boden wälzten und starben, oder zuzulassen, dass Matrosen sich Abschiedsbotschaften auf den Körper schrieben und am eigenen Kohlendioxid erstickten? Sicher war Unfähigkeit im Spiel, aber das konnte wohl kaum alles sein: Es war eine mörderische Apathie, die an Sadismus grenzte. Es erinnerte Alexander daran, wie die Parteizu Zeiten des Kommunismus, als die Kindersterblichkeitsrate bedrohliche Höhen erreichte, kurzerhand Geburten bezuschusst hatte.
Nina kam und setzte sich zu Alexander auf das Bett. »Es ist traurig, Alexander. Natürlich ist es traurig. Aber es ist wirklich nicht unser Problem.«
Dann kamen die Attentate. Erst traf es Anna Politkowskaja von der Nowaja Gaseta , die einen Giftanschlag und einen Einsatz in Tschetschenien überlebt hatte, nur um dann im Treppenhaus ihres Wohnhauses erschossen zu werden.
Dann war da der Ex-KGB-Agent in London, der mit radioaktivem Sushi vergiftet wurde, von Männern, die gleich darauf wieder im wabernden englischen Nebel verschwanden; ein Mann, der in Farben angelaufen war, die bei Menschen gar nicht vorkommen sollten, und der noch im Sterbebett einen anklagenden Finger gen Osten richtete.
Und es gab den Mitarbeiter eines russischen Wirtschaftsmagazins, der über Putins Versuche berichtet hatte, illegal Waffen nach Syrien und in den Iran zu verkaufen, indem er sie über Weißrussland umleitete. Er hatte einen Sohn im Hochschulalter und eine Tochter, die gerade mit seinem ersten Enkelkind schwanger war. Eines Tages war er ausgegangen, um Orangen zu kaufen, war wieder nach Hause gekommen und hatte sich aus dem Fenster zu Tode gestürzt, so die offizielle Version.
»Siehst du das, Nina? Hast du das gelesen?«
Nina verdrehte die Augen und ließ sich auf das Bett fallen. Doch Alexander dachte nach.
»Hör auf«, sagte sie. »Ich höre genau, dass du wieder nachdenkst.«
Im Laufe der Jahre hatte Alexander begonnen, Putin als launenhaft und ein
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