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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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gemacht«, sagte er. »Einfache Handlangertätigkeiten. Ich bin damals durch die Stadt gelaufen und habe den Leuten illegale Flugschriften in die Hand gedrückt.«
    »Sind Sie je erwischt worden?«
    »Man hatte uns von vornherein erwischt. Schon bevor wir wirklich wussten, was wir da taten. Aber wir hielten uns für ziemlich schlau.«
    »Waren Sie schlau?«
    »Nicht besonders«, sagte er. »Ich war prominent. Nicht so wie jetzt, aber trotzdem. Ich stand schon auf irgendeiner Liste, bevor ich mich überhaupt in der Stadt umgesehen hatte. Sie haben uns von Anfang an gehabt. Und diesmal …« Er richtete sich gerade auf. »… diesmal weiß ich das immerhin schon. Ich weiß, dass ich längst erwischt worden bin. Ich versuche nicht, mich zu verstecken. Und ich bilde mir nicht zu viel ein. Egal wie man es dreht und wendet, es ist ein aussichtsloses Unterfangen.«
    »Warum tun Sie es dann?«
    »Mir bleibt nicht viel anderes übrig. Schach langweilt mich inzwischen.«
    »Spielen Sie noch?«
    »Nicht oft. Ich musste mir ein neues Hobby suchen.« Er steckte die Hände in die Taschen und runzelte die Stirn, als sei ihm gerade eine unangenehme Möglichkeit in den Sinn gekommen. »Spielen Sie ?«
    »Habe ich mal. Als Kind habe ich mit meinem Vater gespielt.« Ich sah zu Boden. »Und in Boston hatte ich einen Freund, mit demich manchmal eine Partie gespielt habe. Aber ich war nie besonders gut darin. Ich konnte nie mehr als einen Zug vorausdenken.«
    »Da können Sie sich glücklich schätzen. Mehr als einen Zug vorauszuplanen hat mich im Leben nie weitergebracht. Nur im Schach. Und selbst da konnte es manchmal eine Last sein. Einmal, in Norwegen, habe ich fünfzehn Züge vorausgedacht, aber es hätte einen viel einfacheren Weg zum Sieg gegeben, und den habe ich übersehen. Sich zu sehr auf die Zukunft zu konzentrieren kann lähmend sein, habe ich festgestellt.«
    »Das habe ich auch festgestellt.«
    Alexander sah mich skeptisch an. »Also«, sagte er und klopfte mir auf die Schultern. »Dann lasse ich Sie mal arbeiten.«
    Ich nahm den Papierstapel – die Pressemitteilungen, die E-Mail-Entwürfe, die lieblos getexteten Flyer – und setzte mich in eine Ecke. Um mich herum wurde gestritten und gelacht und wurden Worte in die Computer gehackt. Ich begann die erste Mail zu überfliegen, fand den ersten Rechtschreibfehler und die erste unelegante Formulierung. Ich fühlte mich wacher als sonst. Nach so vielen Wochen im Morast der Nutzlosigkeit war es sehr befriedigend, etwas Praktisches zu tun zu bekommen. Ich dachte darüber nach, was Alexander über Schach gesagt hatte, über die lähmende Wirkung der Einbildungskraft. Ich wusste, wie recht er hatte. Immer wenn ich meine Gedanken mehr als drei Schritte in die Zukunft tun ließ, erreichten sie die Grenzen des Verstehbaren und stürzten ab. Aber jetzt hatte ich konkretere Sorgen – kleine, bewältigbare Probleme: Tippfehler, grammatikalische Regelverstöße. Damit konnte ich leben. Ich beugte mich über die Seiten und begann zu arbeiten.

KAPITEL 15
    Alexander
    St. Petersburg, Dezember 2006
    Alexander stand am Gostiny Dwor auf einem Podest und schrie in die Menschenmenge. Es waren ansehnlich viele Teilnehmer – vielleicht nicht die größte Gruppe seit seinen Anfängen, aber doch annähernd so groß. Er würde Nina nach den Zahlen fragen müssen. Heute waren sie ein bisschen frenetischer als sonst: Ein paar Jungs traten Hagelkörner wie Fußbälle vor sich her; die Menge stampfte auf dem unnachgiebigen Schnee herum wie eine Huftierherde, die im nächsten Moment ausbrechen würde. Er wusste, er sollte dankbar sein für so viel Energie. Aber der Wind wand sich durch seine Kleidung – das tat er immer, egal, wie viele Lagen Alexander trug; immer fuhr ihm der Wind mit spitzen Fingern provozierend die Hosenbeine entlang und in den Kragen –, und Alexander erschrak bei dem Gedanken, dass er (jetzt schon!) begann, das alles sattzuhaben. Die Menschenmassen, die Parolen, die gen Himmel gerufenen Worte – als ob es am Ende von Bedeutung wäre. Er stand hinter seiner Sache, ja, doch, und er würde weitermachen, bis sie ihn erwischten, bis sie ihm Polonium in das importierte Sushi schmuggelten, den Motor seines Flugzeugs auseinandernahmen, ihn im Treppenhaus seiner eigenen Wohnung erschossen, wie sie es im Oktober mit Anna Politkowskaja getan hatten. Aber es gab Zeiten – wie jetzt, und jetzt war kein guter Zeitpunkt dafür –, wo ihm alles wie vorherbestimmt vorkam. Sie waren nicht die

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