Das Leben ist groß
zählt. Dieser Freund von mir, der die Drucke hergestellt hat, war sehr, sehr reich. Ein Milliardär. Wissen Sie, wie reich man sein muss, um einen Milliardär ins Gefängnis abzuschieben?«
»Ziemlich reich«, sagte ich.
»Ja«, sagte Alexander, »ziemlich reich. Niemand redet je davon, wie unanständig reich Putin eigentlich ist, aber ich erwähne es immer wieder gern. Wissen Sie, wie viele Milliardäre wir insgesamt in Russland haben?«
»Wie viele?«
»Einundsechzig. Einundsechzig Milliardäre, und Putin könnte jeden einzelnen ins Gefängnis stecken lassen, wenn sie seine Geschäftsinteressen gefährden. Das ist etwas, das die Leute nicht verstehen. Er ist kein Ideologe. Er ist nur pragmatisch. Nur gierig. Er könnte genauso gut liberal wie konservativ sein – das ist ihm egal. Syrien und Iran unterstützt er, weil die Spannungen den Ölpreis hochtreiben. Und Sie lassen ihm das durchgehen.«
»Ich?«
»Der Westen. Sie lassen sich von seiner Fassadendemokratie blenden. Schließlich veranstalten wir hier etwas, das man Wahlen nennt. Aber das heißt nicht, dass wir keinen Polizeistaat haben. Und inzwischen gibt es hier etwas zu holen. Also lässt der Westen die Oligarchen ihre zweifelhaften Produkte exportieren, und Putin stellen sie zu dem Zweck ein gutes Zeugnis aus. Wenn die USA es ernst meinten mit dem Anspruch, Putin in seine Schranken zu weisen, würden sie anfangen, Visaanträge abzulehnen. Einen neuen Kalten Krieg könnte sich die Oligarchie nicht leisten.«
Ich sah ihn an. »Was würden Sie denn als Präsident dagegen tun?«
Er winkte ab. »Das ist nicht so ein Wahlkampf, wie Sie ihn sich vorstellen, nach dem Motto: Ich werde mich für den und den Gesetzesentwurf einsetzen. Ich gewinne ja nicht. Ich will eine breite Agenda koordinieren, nicht meine eigenen Ambitionen verfolgen.«
»Das ist ein bisschen unspezifisch, oder?«
Er zog die Augenbrauen hoch, und da wusste ich, wenn ich es nicht schon vorher gewusst hatte, dass ich ihm Kontra geben musste, wenn ich ihn für mich einnehmen wollte. »Also, wenn Sie es genau wissen wollen: Wir müssen sehr sorgfältig prüfen, welcheBestandteile des bestehenden Apparats für den Aufbau des neuen Staates brauchbar sind. Sonst bricht Chaos aus.«
Ich atmete tief durch und stürzte mich ins Gefecht. »Des bestehenden Apparats? Das klingt ja sehr zurückhaltend.«
»Es ist zurückhaltend.«
»Wissen Ihre Unterstützer, dass es das ist? Wissen sie, wie extrem vorsichtig Sie sind? Diese Leute scheinen nämlich von außen betrachtet nicht die Allerzurückhaltendsten zu sein.«
Er sah mich an, und ich rechnete jeden Moment damit, dass er seine Sicherheitsleute rufen und bitten würde, mich zur Tür zu begleiten. Ich hätte das jedenfalls getan, hätte ich einen ganzen Sicherheitsapparat zu meiner Verfügung gehabt. Doch er tat es nicht. Er lächelte, als hätte er einen Schachgegner entdeckt, der ein klein wenig besser war als angenommen, wenn auch nicht annähernd gut.
»Wir brauchen wieder Gouverneurswahlen. Wir müssen eine neue Verfassung entwerfen, weil die jetzige viel zu autoritär ist.«
»Aber im Alleingang die Verfassung zu kassieren – ist das nicht auch ein klein wenig autoritär?«
Seine Augen blitzten. Er amüsierte sich offenbar. »Das wird auf der Basis eines nationalen Konsens passieren.«
»Welcher Prozentsatz der russischen Bevölkerung sieht sich noch einmal als Anhänger Stalins?«, fragte ich. »Fünfundvierzig Prozent?«
Er grinste. »Fünfundfünfzig, um genau zu sein. Sie sehen also, womit ich es aufnehmen muss.«
»Ja«, sagte ich. Ich wandte mich wieder den Bildern zu. Auf einem war in sattem Grün ein kleines Café am Ende einer langen Straße zu sehen.
»Das ist das Saigon«, sagte Alexander. »Da waren wir damals oft. Vielleicht haben Sie es gesehen? Es ist inzwischen ein Hotel. Ein Zimmer kostet so um die sechshundert Rubel, glaube ich. Also. Mögen Sie anfangen?«
»Ja.«
»Die hier könnten Sie lektorieren«, sagte er und gab mir einenStapel Papiere. »Sie sind schon übersetzt, aber es braucht noch einen Muttersprachler, der den Feinschliff macht.«
Ich überflog die erste Seite. Unter Mithilfe der Demokratischen Union wird Alexander Besetow in der Staatlichen Universität St. Petersburg einen öffentliche Debatte teilnehmen und der Frage nachgehen, in welchen Maßen der Staat in einer modernen Wirtschaft die Ölmonopole abschwächen sollte.
»Okay«, sagte ich. »Das kriege ich hin.«
»Ich habe auch mal so was
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