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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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gewöhnt, Verleumdungen ausgesetzt zu sein, und bestand meistens darauf, sie zu widerlegen, obwohl es weder Vlad noch den Doppelagenten zu interessieren schien, was die Wahrheit war, solange er sie bezahlte.
    »Sie glauben, dass die Botschaft eine neue Mitarbeiterin hat, eine irgendwie komische junge Frau, und dass sie auf dich angesetzt ist.«
    »Also bitte«, hatte Alexander gesagt. »Allein so was anhören zu müssen ist schon peinlich.«
    Der kleine Kriecher hatte gelächelt und sich das glatte Kinn gekratzt. »Ich sage ja nur, was in ihrer Akte steht.«
    Wo waren seine Aufzeichnungen von dieser Sitzung? Alexander blätterte in seinen Papieren – den Recherchen für seine Ansprache, Statistiken über die Entvölkerung Sibiriens, Notizen zum Filmprojekt –, bis er das Protokoll gefunden hatte. Die Botschaftsangestellte war angeblich eine »unbeholfene amerikanische Akademikerin«. Wie viele davon konnte es in einer Stadt schon geben? Bestimmt war es dieselbe Frau.
    Die CIA hatte sie nicht geschickt, so viel war klar. Im Laufe der Jahre hatten sie mehrmals Kontakt zu ihm aufgenommen, hatten ihm den einen oder anderen Gefallen getan und auch welche von ihm angenommen, aber im Großen und Ganzen war ihnen klar, dass er seine Glaubwürdigkeit verlieren würde, wenn er sich von ihnen vereinnahmen ließe. Er verfolgte auch nicht dieselben Ziele wie sie. Oder wie irgendjemand sonst. So sehr sie ihn bei CNNmochten – weil er sarkastisch und skeptisch war und gern über Bürgerrechte sprach –, war er doch ein radikaler finanzpolitischer Konservativer. Er wollte die Einheitssteuer. Er wollte totale Deregulierung. An den amerikanischen Universitäten würden sie ihn nicht besonders mögen, wenn er darüber redete, aber meistens ging es bei seinen Vorträgen um Pressefreiheit und Demokratie, also rissen sich diese Kids aus Princeton in ihren Che-Guevara-Hemdchen um sein Autogramm.
    Aber das Entscheidende waren die Gerüchte. Sie waren entscheidend, weil er, wenn er die Provinz bereiste, wenn er sich in Jekaterinburg, in Nischni Nowgorod und Irkutsk die Sorgen der Bevölkerung anhörte, auf ihr Vertrauen angewiesen war. Die Leute redeten gern mit ihm und mochten ihn meistens; er hatte ein gewöhnliches Gesicht und eine ungewöhnliche Energie und erinnerte Mütter offenbar an ihren talentiertesten Sohn. Sie beklagten sich gern bei ihm und mochten es, wie er Putin lächerlich machte – indem er parodistisch boshaft die Wangen einzog und seine Augen flach und leer werden ließ –, aber wenn sich Gerüchte verbreiteten, würden sie ihm nicht mehr trauen. Der arbeitet für die Amerikaner, habe ich gehört. Der ist ein CIA -Agent. Das konnte er sich nicht leisten – es richtete zu viel Schaden an, riss zu große Löcher in das zarte Netz der Vertrauensverhältnisse, das er überall in diesem weiten, einsamen Land geknüpft hatte –, und er musste dafür sorgen, dass diese Frau, wer immer sie war, aufhörte zu tun, was sie tat.
    Er überlegte, sich wieder hinzulegen – den Arm um Ninas knochige Schultern zu legen, mit den Fingerspitzen die Hügelkette ihrer Wirbelsäule entlangzufahren –, doch dann entschied er sich anders. Er war viel zu wach. Er blätterte zu den Notizen für seinen Film über die Sprengstoffanschläge zurück. Obenauf lag ein Foto: Eine Schwarzweißaufnahme des ersten Anschlags auf ein Wohnhaus, dessen Dach fehlte, von dessen Wohnzimmereinrichtungen und Schlafsofas und Küchentresen nur graue Aschehaufen geblieben waren. In einer Ecke des Bildes lief ein kleiner Junge mit weit aufgerissenem Mund eine rauchverhangene Straße entlang.
    Der Junge erinnerte ihn immer an das Mädchen – sein Mädchen, sein handloses Mädchen mit dem lautlosen Schrei. Und wenn er an sie dachte, dachte er an die Gebäude, die sich in faserig orangefarbene Feuerbälle verwandelten, deren Rauchpilze die Stadt beinahe unbewohnbar machten. Dann kam die Angst: panische Verzweiflung wie bei einer Belagerung, Hamsterkäufe, Wetten, Durchhalteparolen. Dann kam die Meinungsmache: Terrorismus wurde es genannt; ganz sicher die Tschetschenen, wurde beschlossen; ganz sicher im Rahmen des globalen islamischen Dschihad, der ein Jahr zuvor Amerikas Botschaftsgebäude heimgesucht hatte, wobei die Amerikaner, da war man sich einig, zumindest teilweise selbst schuld waren. Dann kam Putin, ausgerechnet Putin, und hüpfte leichtfüßig von Sieg zu Sieg – selbstzufrieden, siegesgewiss verordnend und verurteilend. Die Menschen waren froh, dass

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