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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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bewusst war, was ich in den Monaten ohne ihn verpasste. Ich schrieb, dass ich Abendessen und Spaziergänge und Sex und Gelächter verpasste und gemeinsames Duschen und leidenschaftliche Diskussionen im Flüsterton und die Sorte Streit, die man sucht, weil man es sexy findet, wenn der andere ein klein wenig wütend wird. Aber dann schrieb ich ihm auch, was ich noch verpasste und was ich ihn zu verpassen zwang. Das erste Zucken eines Ellbogens oder einer Hand. Den unaufhaltsamen Verlust von Fähigkeiten. Den unerbittlichen Rückzug meines Gehirns über eine abgeriegelte Grenze. Ich schrieb von seiner wachsenden Verbitterung und wie schuldig er sich ihretwegen fühlen würde und wie sie ihn überwältigen würde. Denn das würde sie, schrieb ich, ob er es mir je glauben würde oder nicht. Die Lebenden reagieren seit jeher mit Verbitterung auf die Forderungen der Toten, besonders, wenn die Toten noch lebendig sind. Ich schrieb, ich kenne mich da aus. Ich schrieb, ich wüsste, dassich die richtige Entscheidung getroffen hatte, auch wenn ich es für ihn gleich mit wissen musste.
    Durch mein Fenster kam morgens rosafarbenes Licht: Wenn ich zu einer bestimmten Zeit aufwachte, war das ganze Zimmer in das Rosa der Sixtinischen Kapelle getaucht, in das Rosa eines eben wieder zum Leben erweckten Gesichts. Dann setzte ich mich auf und horchte auf gezupfte Harfentöne, auf den sich regenden Chor, und wenn nichts kam, legte ich mich wieder hin und versuchte noch einmal einzuschlafen. Es überraschte mich immer wieder, wie wenig Angst ich vor dem Schlaf hatte, obwohl er die größtmögliche Annäherung war.
    Seltsame Dinge passierten mit meinem Zeitgefühl. Augenblicke bündelten und krümmten sich; manchmal starrte ich stundenlang nur vor mich hin, in einer Art Anfall, aus dem ich desorientiert und aufgelöst erwachte. Dann wieder ballte sich eine ganze qualvolle Ewigkeit in dem Umrühren meines Kaffees, in dem Umblättern einer Buchseite zusammen.
    Meine Nächte waren ruhelos und fieberhaft. Ich streifte die Grenze zum Schlaf und lauschte auf den Widerhall sarkastischen Gelächters, auf das Geklapper der Zimmerschlüssel. Schatten malten Fasern und Spitzenmuster an die Wand. Wenn ich erwachte, murmelte ich vor mich hin, halb noch in Träumen, die mich danach den ganzen Tag verfolgten. In ihnen kamen weitere stumme Erinnerungen hoch: Meine Eltern, wie sie an einem Baumstamm lehnten, inmitten von langsam zu Boden sinkendem gelbem Laub. Schachspiele aus Boston verschmolzen mit denen meiner Kindheit. Ich erinnerte mich an die Triumphe der immer siegreichen Dame meines Vaters. Ich erinnerte mich an den Aufprall des geborstenen Schädels seines Königs auf dem Brett.
    Dann erinnerte ich mich an den Aufprall seines Arms auf dem Herd, den seines Kopfes auf den Badezimmerfliesen.
    Als ich in der Woche darauf wieder in Alexanders Wohnung kam, war Viktor dort. Sein Blick huschte kurz zu mir herüber. Dannfuhr er fort, über einen kleineren Mann mit Notizblock in der Hand energisch den Kopf zu schütteln. »Das nimmt Naschi sofort auseinander«, sagte Viktor. »Die machen uns platt. Das Layout muss besser werden.«
    »Sei still«, sagte der andere.
    »Guck dir doch an, wie es beim G8 war. Du verschwendest deine kostbare Tinte.«
    »Sei jetzt bitte still.«
    Viktor schielte zu mir herüber und nickte mit dem Kinn in Richtung des Sitzenden. »Assistent«, formte er stumm mit den Lippen.
    Ich zog mich schnell in den Flur zurück und beschäftigte mich damit, mir die Drucke an den Wänden anzusehen. Mir war bewusst, wie verloren ich aussah, obwohl man mich hergebeten hatte. Ein Bild von meinem vierzehnjährigen Selbst blitzte vor mir auf, wie ich am ersten Tag der neunten Klasse auf der aussichtslosen Suche nach dem Geometrieraum durch die Gänge irrte. Ich starrte angestrengt auf einen bernsteinfarbenen Newski-Prospekt und bemühte mich, ganz vertieft auszusehen.
    Kurz darauf gab es eine Veränderung der Luft. Alexander stand hinter mir. »Mögen Sie die?«, fragte er.
    »O ja«, sagte ich und drehte mich um.
    »Die hat ein Freund von uns gemacht. Ein sehr reicher Mann. Er war im Ölgeschäft. Die Drucke hat er gemacht, um sich zu zivilisieren.«
    »Ist er hier?«, fragte ich.
    »Er verbringt acht Jahre in einer Strafkolonie in Sibirien«, sagte Alexander. »Er hat uns finanziell unterstützt. Aber Putin setzt klare Prioritäten. Er ist gar nicht daran interessiert, jeden aus dem Weg zu räumen. Nur jeden, der seiner Ansicht nach wirklich

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