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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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erste Gruppe, die sich zusammenrottete und schrie und Forderungen stellte.
    Er nahm einen Schluck eiskalter Luft. »Wir sind angetreten, um zu verlieren«, rief er. Dieser Spruch erntete immer die lautesten Rufe, und das musste ihm doch zu denken geben. »Und wir sind angetreten, um, während wir verlieren, bemerkt zu werden. Wir sind angetreten, damit man uns aufhält. Wir sind angetreten, damit man uns entgegentritt. Wir sind angetreten, damit man unsermordet.« Er sah sich um. Dieser Satz war seine Herausforderung, vielleicht seine Einladung an das Universum. Irgendwann würde er wahr werden, das wusste er, also konnte es genauso gut kunstvoll inszeniert aussehen. Aber die Fahnen flatterten, und die Menge jubelte. Heute war es noch nicht so weit.
    Er warf einen Blick in seine Notizen. Alexander bemühte sich, seine Reden immer wieder abzuwandeln, wenn er sie hielt – heute vor soundso vielen Jahren, stellt euch vor, hat Puschkin seinen Eugen Onegin fertiggestellt, hat Polen seine Unabhängigkeit von Russland erklärt! –, damit man ihm auch mehrmals zuhören und immer noch etwas Neues erwarten konnte. Er sah wieder auf und in die Menge; er verlieh seinem Gesicht einen Ausdruck überraschten Interesses, um möglichst überzeugend die Freude an der Entdeckung zu vermitteln, dass sich heute der Tag jährte, an dem Chruschtschow einen Hund dem Tod im Weltall überantwortet hatte. Während er das tat, fiel sein Blick auf eine junge Frau, die schräg gegenüber seines Podests stand und sich Notizen machte. Er sagte seinen Satz auf und sah noch einmal hin. Es fiel ihm jedes Mal auf, wenn sich jemand bei seinen Kundgebungen Notizen machte – eine Marotte, die sicher mit Nikolai zu tun hatte –, auch wenn Nina ihm oft versichert hatte, dass nichts Schlimmes dabei sein musste: Es konnte ein Bürgerjournalist sein, ein europäischer Blogger oder die richtige westliche Presse. »Was hast du bloß?«, fragte sie dann und schlang in ihrem riesigen schwarz-weißen Bett ihr Bein um seins. »Willst du nicht, dass die Leute sich für dich interessieren?« Und er antwortete, ja, doch, das wollte er, obwohl er wusste, dass sich zumindest manche aus sehr schlimmen Gründen für ihn interessierten. »Du machst dir zu viele Sorgen«, sagte Nina und verzog das Gesicht zu einem monströsen aufgesetzten Schmollen (das wohl sein Gesicht darstellen sollte, wenn er sich Sorgen machte, also immer). Und weil es würdelos gewesen wäre, eine Frau zu bitten, sich Sorgen um ihn zu machen, wenn sie von Natur aus nicht dazu neigte, zuckte er dazu nur mit den Schultern, drehte sich um und schlief mit dem Gesicht zur Wand ein.
    Aber diese Frau – was war es nur, das an ihr ganz und gar nicht journalistisch wirkte? Sie sah so unaufdringlich, so unsicher aus, dass man sich fast schon fragte, ob es eine Fassade war. Vom Äußeren her hätte sie Russin sein können – sie hatte braunes Haar, einen finsteren Gesichtsausdruck und eine Hautfarbe wie Speisesalz –, aber er wusste sofort, dass sie keine war. Etwas stimmte nicht mit ihrer Haltung; sie hielt sich zu fern von den anderen, als dass sie sich unter ihnen wohlgefühlt hätte, und zu nah, um offen feindselig zu sein. Sie war nicht hübsch – sie war zu monochrom, ihre Blicke und Gesten zu schüchtern, fand er –, aber in ihren Augen lag eine verschlagene Intelligenz, die ihn zweimal hinsehen machte. Sie sprach Nina an. Nina würde sie sofort abwimmeln, das wusste er; die Fähigkeit, Menschen abzuwimmeln, war eine von Ninas größten Stärken, und Alexander setzte darauf, dass sie an seiner statt unfreundlich war. Irgendjemand musste es tun, und Alexander war nach all den Jahrzehnten, all den Frauen immer noch ein wenig zu nett dafür. Es war gut für Nina, wenn sie dann und wann anderes zu tun bekam, als auf High Heels durch die Wohnung zu klackern, sich die Haare rot zu färben und ihren Körper so kunstvoll hygienisch auszuhungern, dass Alexander es kaum noch fertigbrachte, sie als Produkt der natürlichen Auslese zu begreifen. Nina sprach mit der Frau mit dem Notizbuch.
    Er sah, wie Nina den Kopf schüttelte, sich nach Vlad umblickte – dem Chef der Leibwache, weil er der Größte war – und sich dann wieder der Frau zuwandte. Aus den Blicken der Frau sprach Verzweiflung, stellte er fest, nicht das ganz große Pathos, aber doch ein leiser Hinweis, dass hier jemand etwas nicht bekommen hatte, das ihm sehr, sehr wichtig war. Alexander zog sich Handschuhe über. Er ertappte sich dabei, zu

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