Das Leben ist groß
bebten wie Baumwipfel im Orkan. Und ich dachte an das Glitzern in ihrer Stimme, daran, dass man sich beim Zuhören fühlte wie in einem Spiegelkabinett.
»Nicht so gut, fürchte ich.«
»Verstehe.« Er wartete. Ich spürte, dass er sich noch etwas von mir erhoffte, wusste jedoch nicht, was. »Lebt sie allein?«
Ich dachte daran, wie sie meine Hand gepackt hatte, an die Nacktheit ihrer dürren Finger. Ich dachte an die Größe ihrer Wohnung und daran, wie der Vogelkäfig die gesamte Einrichtung dominierte. Mir fiel auf, dass es kein Schlafzimmer gegeben hatte – nur das enge Wohnzimmer und die Puppenhausküche. Sie musste auf dem Sofa geschlafen haben.
»Ich glaube schon.« Dann begriff ich, als ich sah, wie Alexander die Zähne zusammenbiss, wie er den Ausdruck seiner Augen löschte und wie seine Worte zitterten wie Hochseiltänzer, dass er sie geliebt hatte. Und ich begriff, wie unverzeihlich dumm es war, Liebe zu verweigern. Und ich begriff außerdem, was für einen brutalen Fehler ich selbst begangen hatte, und war dankbar dafür, wie wenig Zeit mir bleiben würde, ihn zu bereuen.
»Sie sollten sie besuchen«, sagte ich. Dann kam ich mir aufdringlich vor. »Vielleicht. Wenn Sie möchten.«
»Vielleicht. Ich bin ziemlich beschäftigt in letzter Zeit.«
»Das sehe ich«, sagte ich. Mir fiel auf, dass ich diesen Ansatz noch gar nicht ausprobiert hatte. »Vielleicht könnte ich Ihnen ja behilflich sein?«
Er stand auf, und es verblüffte mich wieder, wie klein er in Wirklichkeit war. Die Autorität, die er ausstrahlte, verdankte sich seinen dichten Augenbrauen, seinem energischen Unterkiefer, der muskulösen Kompaktheit seiner Schulterpartie, der müden Intelligenz seinesBlicks. Er wirkte nicht wie jemand, der sein Leben damit zugebracht hat, Spielfiguren auf einem Brett hin und her zu schieben.
»Sie möchten einen Job«, sagte er brüsk.
Ich hustete. »Keinen Job. Ich möchte mich nützlich machen.«
Ein ungeduldiges Schweigen folgte. Ich stand ebenfalls auf, weil es das Gebot der Stunde zu sein schien. Er sah mich an. »Und Sie sind in Ihrer Heimat Akademikerin?«, fragte er schließlich.
»War ich mal.«
»Sie können auf Englisch schreiben, oder?«
»Ja.«
»Und Sie werden sich nicht wieder mit unserem Freund Nikolai unterhalten?«
»Nein.«
»Also gut«, sagte er. »Sie könnten uns mit der amerikanischen Presse behilflich sein. Mit der E-Mail-Korrespondenz. Okay? Sie könnten Texte zusammenschreiben. Nichts Aufregendes. Nichts Glamouröses.«
»Aufregung brauche ich nicht.«
»Schön«, sagte er. »Wenn die sowieso schon denken, dass Sie Ärger machen, warum sollten Sie es nicht wirklich tun? Sie können Montag anfangen. Wie lange planen Sie im Lande zu bleiben?«
Ich überlegte, wie ich antworten sollte. »Das weiß ich noch nicht«, sagte ich. »Wahrscheinlich nicht sehr lange.«
»In Ordnung«, sagte er und manövrierte mich in Richtung Tür. »Dann nutzen wir Ihre Fähigkeiten, solange wir können.« Er öffnete die Tür, und vor mir schwebte wieder der Duft teuren Kaffees über einem weißen Sandstrand von einem Teppichboden, der sich von Wand zu Wand erstreckte. Ich reichte Alexander die Hand. Er ergriff sie.
»Danke«, sagte ich.
»Bitte. Und, Irina?« Er wies mir den Weg hinaus. »Wenn man weiß, dass man verliert, ist es das Vernünftigste, aufzugeben, habe ich gehört.«Der Rest der Woche schmolz ungefähr so dahin wie die Wochen davor: in einem verträumten, fast trunkenen Zustand stillgestellter Erregung, die durch jedes noch so winzige Fragment einer Erinnerung oder Einbildung in Schwingung geriet. Oft fühlte ich mich krankhaft unempfindlich und beobachtete mich selbst mit der distanzierten Außenperspektive eines Menschen, der heftige Schmerzmittel schluckt. Dann wieder war ich seltsam aufgekratzt, und mein Kopf füllte sich mit Satzfetzen und bedeutungslosen Bildern. Ich erinnerte mich aus dem Nichts an die Strichzeichnung eines Stinktiers auf dem Umschlag eines Malbuchs aus den siebziger Jahren; an einen Tag in meiner Schulzeit, den ich mit einem Jungen, in den ich verliebt war, in einem Obstgarten verbracht hatte; an den gelben Hund in dem Haus gegenüber von meinem Kinderladen, der eines Tages auf geheimnisvolle Weise verschwunden war. Ich staunte über die Fähigkeit meines Gehirns, dermaßen viele Informationen abzuspeichern, die ich nie im Leben brauchen würde.
Ich schrieb weiter an Jonathan, unabschickbare, unlesbare, unverzeihliche Briefe. Ich schrieb, dass mir
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