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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Dissertation über dreisprachige Wortspiele in Ada oder Das Verlangen zur Hälfte fertig. Am liebsten war mir eisige Kälte; sie lenkte meine mäandernden, selbstbezüglichen Gedankengänge in eine klare Unzufriedenheit mit meiner unmittelbaren Umgebung um. Das war, wie ich zugeben muss, eine echte Verbesserung.
    Ich setzte mich, Lars gewann, und dann legte er präzise dar, was ich falsch machte, sowohl im Spiel als auch ganz allgemein. Von da an waren wir Freunde.
    Lars erzählte mir im Laufe der Zeit noch einiges mehr, auch wenn unmöglich alles davon wahr sein konnte. Er war in Stockholm als Sohn eines Großreeders geboren worden, der vom schwedischen Hochadel abstammte, sagte er. Seine Familie hatte während der Ölkrise 1979 ihr gesamtes Vermögen verloren. Er hatte in Philadelphia auf der Straße gelebt, ein Jahr in Hongkong verbracht und war aus Gründen, auf die er nicht näher einzugehen wünschte, unehrenhaft aus dem schwedischen Armeedienst entlassen worden. Seine Geschichten steckten voller Widersprüche, Rätsel und räumlicher oder zeitlicher Lücken, doch wenn ich ihn darauf ansprach, bestand Lars’ einzige Reaktion darin, mich für meine neugierigen Fragen noch schneller vom Brett zu fegen. Also ließ ich es bleiben. Lars setzte auf dreiste Bluffs, unhaltbare Behauptungen, die nie nachprüfbar waren. Er erzählte, er habe in einer Mine am Schwarzen Meer gearbeitet, als blinder Eisenbahnpassagier Moldawien durchquert und von pakistanischen Immigranten in London gelernt, den Koran zu rezitieren. Wie hätte man ihm nachweisen sollen, dass das nicht stimmte?
    Es hat etwas Intimes, sich Lügengeschichten anzuhören, finde ich – was jemand für wahr halten möchte, sagt mehr über ihn aus als alles, was wirklich geschieht. Manchmal gab es aber auch gezielte Provokationen – Anspielungen auf angebliche uneheliche Kinder, versuchte Attentate und dergleichen. Oder, noch schlimmer, Ratschläge. Analysen. Geistreiche Aphorismen. »Weißt du, was dein Problem ist?«, fragte er mich mehr als einmal. Und obwohl ich jedes Mal sagte, das wüsste ich nur zu genau – hochmoderne Gentests hätten es mir verraten –, schob er prompt seine eigene Antwort nach. »Du denkst zu viel«, oder »Du hast zu wenig Sex«, oder »Du denkst zu wenig an Sex«, erklärte er mir. Meistens ließ er seiner Diagnose eine instruktive Anekdote aus seinem eigenen Leben folgen, in der mehr Sex oder weniger Nachdenken ihm den Tag gerettet hatten.
    Bei unserer letzten Begegnung, bevor er verstummte, erzählte Lars davon, wie man in der Türkei auf ihn geschossen hatte. Es war Ende März – in Neuengland die Zeit, in der allmählich der Lebenswille wieder erwacht. Der Himmel war weiß, und Menschen trieben über den Harvard Square dahin wie bunte Aquarienfische in allen möglichen Formen und Arten. Ich hatte uns Kaffee besorgt. Lars leerte fünf Tütchen Zucker in seinen und schickte mich zum Kaffeestand zurück, um Nachschub zu holen. Als ich ihn bei meiner Rückkehr missbilligend ansah, sagte er: »Weißt du, was dein Problem ist? Du hast Angst davor, Spaß zu haben.«
    »Aber ich habe Spaß«, sagte ich, nippte an meinem Kaffee und kleckerte auf meinen Mantel. Das Schachbrett war noch unberührt. Jeder von uns hatte unendlich viele Möglichkeiten, zu gewinnen oder zu verlieren, wobei uns beiden einigermaßen klar war, worauf es hinauslaufen würde. »Ich habe jede Menge Spaß«, sagte ich. »Du hast ja keine Ahnung.«
    »Oh, natürlich«, sagte Lars. »Insgeheim erlebst du ungeahnte Freuden.«
    Ich eröffnete mit meinem Königsbauern. Lars tat es mir nach. »Du kannst es dir gar nicht vorstellen«, sagte ich. »Und das ist auch besser so.«
    »Ich jedenfalls«, sagte Lars, »habe so manches Abenteuer hinter mir. Viele Male habe ich dem Tod ein Schnippchen geschlagen. Ich habe mir das Recht auf ein bisschen Zucker in meinem Kaffee redlich verdient.«
    »Okay«, sagte ich.
    »Habe ich eigentlich mal erwähnt, wie ich in der Türkei fast erschossen worden wäre?«
    Ich durfte ihn nicht fragen, was er überhaupt in der Türkei zu suchen gehabt hatte; das hätte er als unverzeihlich aufdringlich und unhöflich angesehen. Die Spielregeln standen schon lange fest.
    »Das war ein paar Autostunden außerhalb von Ankara«, erzählte er. Er schob ein paar Bauern vor und entwickelte seine Läufer. Lars’ Einstellung zum Schach glich der zum Leben im Allgemeinen:Bangemachen gilt nicht. Man muss sich reinstürzen, sich die Hände schmutzig machen

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