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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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und sehen, was dabei herauskommt. Zu viel Berechnung lähmt einen nur, und Lähmung ist Tod.
    »Wann war das?«, fragte ich, weil ich wusste, dass es ihn verärgern würde. Lars zu verärgern gehörte zu meiner Strategie. Ich schob meinen Läuferbauern vor und wollte als Nächstes den Damenbauern ziehen, um ein Bauernzentrum aufzubauen und endlich einmal, hoffentlich, Lars in seine Schranken zu weisen.
    »In den Siebzigern. Wer weiß das schon so genau? Vor deiner Zeit.«
    »Ich bin dreißig.«
    »Also bitte.« Lars verzog das Gesicht und entwickelte seine Dame. Das kam früh, auch wenn der Zug technisch gesehen in Ordnung war. Sie war nicht bedroht, und er wollte offenbar nur die Kontrolle über das Zentrum behalten. Ich redete mir ein, dass er beunruhigt war. »Es gehört sich nicht für eine Dame, ihr Alter preiszugeben«, sagte er.
    Ich sondierte mit zusammengekniffenen Augen die Lage. Lars hatte seinen König hinter der Dame und ihrem Springer in Sicherheit gebracht. Meine Bauern und mein Läufer standen im Zentrum wie vor einem Erschießungskommando aufgereiht.
    »Jedenfalls«, sagte Lars, »war ich in Begleitung. In Begleitung eines Mädchens.« In vielen seiner Erzählungen kamen Mädchen vor, jedes Mal ein anderes, wie Bond-Girls, die gerade lange genug auf der Bildfläche erscheinen, um verführt und gerettet zu werden, und dann sang- und klanglos wieder verschwinden. Lars erwähnte immer wieder, wie gutaussehend er als junger Mann gewesen war. Ich kannte ihn nur mit strähnigem, verfilztem grauem Haar und karierten Anzügen, aber seine blauen Augen hatten einen verschmitzten Glanz, der früher einmal attraktiv gewirkt haben mochte, wobei ich auf dem Feld nicht gerade eine Expertin bin. Von all seinen Geschichten wollte Lars an die von seiner jugendlichen Schönheit am meisten glauben.
    »Okay«, sagte ich. »Und weiter?« Aus reiner Bosheit schlug ich einen seiner Bauern.
    »Wir haben also außerhalb der Stadt diesen wunderschönen Fluss entdeckt und denken, ein herrlicher Ort für ein Picknick, für ein kleines Päuschen, du verstehst.«
    »Ja, verstehe«, sagte ich. Den Bauern zu schlagen war ein Fehler gewesen. Ich hatte eine Diagonale auf meinen König eröffnet. Lars trieb mich wie immer kühl und berechnend in die Enge und wartete ab, dass ich von selbst Fehler beging.
    »Wir wollten uns ein Weilchen hinlegen, einander näher kennenlernen«, sagte Lars. Er schlug meinen Bauern mit seinem Springer. Ich nahm seinen Springer mit meinem, der prompt von Lars’ Dame geschlagen wurde.
    »Ja«, sagte ich. »Schon kapiert.« Ich rochierte. Lars opferte einen Läufer, um mein Bauernzentrum aufzubrechen.
    »Wir wollten mitten auf der Wiese vögeln.«
    »Okay«, sagte ich. »Verstehe.« Ich weiß nicht, ob es ein Übersetzungsproblem war oder ein ausgeklügelter interkultureller Witz, aber Lars tat immer so, als hätte ich keinen Schimmer, worauf er hinauswollte – und er wollte immer auf dasselbe hinaus. »Verdammt, Lars«, sagte ich manchmal, »noch ist mein Gehirn nicht aufgeweicht. Du erfährst wahrscheinlich als Erster davon, wenn es so weit ist.« – »Wer weiß?«, antwortete er dann. »Du hast dein ganzes Leben an der Universität verbracht. Wann warst du das letzte Mal mit einem Mann zusammen?« Damit war das Gespräch dann meist beendet.
    »Wir liegen also im Gras. Der Fluss ist so blau. Ein wahnsinnig intensives grünliches Blau, wie man es in der Natur überhaupt nicht vorkommen sieht. Wie sagt man dazu?«
    »Türkis vielleicht. Aquamarin. Coelinblau.«
    »Du kennst mehr Wörter, als du je gebrauchen kannst«, sagte Lars. Das sagte er mindestens einmal am Tag.
    »Kann sein«, sagte ich.
    »Und wir rammeln wie die Bisamratten«, sagte Lars stolz.
    »Wie die Kaninchen.«
    »Wie bitte?« Er funkelte mich mit gerunzelten Brauen an.
    »Ich meine, man … rammelt … wie die Kaninchen. Du weißt schon. Öffentlich und ziemlich ausdauernd.«
    »In Schweden ist genau das das Problem mit den Bisamratten.«
    »Okay«, sagte ich. »Egal.«
    »Und es ist herrlich«, tönte Lars. »Immer ist nur von der Politik des kurdischen Volkes die Rede und nie von der Schönheit seiner Mädchen.«
    »Da ist was dran«, sagte ich. Lars’ Dame rückte hoheitsvoll gegen meinen ängstlich hingekauerten König vor. Sie wirkte gebieterisch, unverwundbar. Ich starrte finster vor mich hin.
    »Und als wir wieder aufstehen – viele Stunden später –, da schreckt Sinbil zusammen. Neben ihr ist etwas auf dem Boden aufgeschlagen

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