Das Leben ist groß
und hat Staub aufgewirbelt. ›Lars‹, sagt sie, ›ich glaube, da wirft jemand mit Steinen.‹«
»Aber du weißt natürlich, dass es keine Steine sind.«
»Natürlich sind es keine Steine. ›Sinbil‹, sage ich, ›das sind keine Steine. Lauf, schnell!‹« Lars schlug mit seiner Dame meinen Läufer. »›Im Zickzack!‹, sage ich. ›Lauf im Zickzack den Berg hoch!‹ Übrigens, Schach.«
Ich zog meinen König auf das Ausgangsfeld des Turms, wo er einsam und machtlos hocken blieb. Und ich gähnte, mein liebstes Täuschungsmanöver.
»Der Hang, den wir eine halbe Stunde lang hinunterspaziert waren – plötzlich sind wir in wenigen Sätzen wieder oben. So ist es, wenn man unter Feuer steht.«
Ich blinzelte in meinen Kaffee und versuchte einzuschätzen, wie viel Prozent von Lars’ Erzählung in diesem Fall Bullshit waren. Er schien eine ungewöhnliche Sorte Lügner zu sein. Offenbar glaubte er mehr oder weniger selbst an seine Geschichten, war aber, so ungern ich es eingestand, nicht einfach nur verrückt. Er log auch nicht, um etwas zu erreichen, um andere zu manipulieren oder sich aufzuspielen. Sondern er log, glaube ich, um sein Leben zu erweitern. Er ging von einem wahren Ereignis aus und dehnte es in alle Richtungen, machte es verrückter, exotischer, katastrophaler. Ererzählte nicht, wie es wirklich gewesen war, sondern wie es hätte sein sollen.
»In letzter Sekunde springen wir ins Auto«, fuhr er fort. »Ich verfluche diese Bastarde auf Türkisch. Wir rasen Richtung Stadt davon, aber es dauert Stunden, bis wir da sind. Stell dir vor, wenn sie einen von uns angeschossen hätten, dann wären wir bis dahin sehr, sehr tot gewesen. Der Autoverleih sagt noch zu mir: ›Ach ja, in den Bergen gibt es Räuber, haben wir nicht gesagt, dass Sie dort nicht ohne Leibwächter hinfahren sollen?‹ Aber ich, ich wusste es besser.«
Er fing an abzuschweifen, und das bedeutete, dass er den Weg zum Sieg genau vor sich sah. In dem Moment entspannte er sich immer ein wenig, und sein steter Redefluss uferte weiter aus. Er lächelte und stellte rhetorische Fragen.
»Und was, glaubst du, wusste ich? Ich wusste, was für eine dumme Erklärung das war. Warum hätten die Räuber uns, zwei einfache Reisende mit bescheidenen Mitteln, nicht einmal Amerikaner, verfolgen sollen? Wie hätten sie uns in den Bergen auflauern sollen, wenn sie uns nicht dorthin gefolgt wären? Warum blieben sie nicht in der Stadt, wo die Räuberei sich viel mehr lohnt?«
Ich schielte sehnsüchtig zu meiner eigenen Dame hinüber, die von all dem Material umstellt war, das ich nicht zum Einsatz gebracht hatte – einem Springer, einem Turm, dem schwarzfeldigen Läufer. Alle vergeudet.
»O nein, das war zu einfach. Verdächtig einfach. Räuber? Also bitte. Das ist ja beleidigend.« Lars senkte die Stimme. »Es war der türkische Geheimdienst.«
»Also wirklich«, wandte ich ein, um Zeit zu gewinnen, obwohl ich schon wusste, wie wenig es mir nützen würde. »Was sollte denn ausgerechnet der türkische Geheimdienst von dir wollen? Was sollte überhaupt irgendwer von dir wollen, außer deinem Reisepass?«
»Psst!«, mahnte Lars. »Weißt du nicht, dass sie auch hier ihre Agenten haben? Sie haben schon einmal versucht, mich umzubringen.Willst du, dass sie mich doch noch erwischen? Das ist keine sehr ehrenhafte Methode, eine Niederlage abzuwenden. Übrigens, Schach.«
Lars’ Dame hatte einen isolierten Bauern aus dem Feld geräumt, und ich stellte meinen König wieder auf seine vorige Position. Lars ließ seinen Springer zur Verstärkung vorrücken, was inzwischen reichlich übertrieben wirkte. Ich holte meinen eigenen Springer dazu, doch es war zu spät. Die Dame war unangreifbar; sie umkreiste meinen König mit einer Vorsicht, die fast schon höhnisch wirkte. Dann preschte aus dem Nichts ein Läufer heran und schlug meinen letzten Verteidigungsbauern. Ich kippte meinen König um.
»Okay«, sagte ich. »Das war’s.«
»Ein Musterbeispiel dafür, was passiert, wenn die Bauernkette vor dem rochierten König durchbrochen wird«, schniefte Lars. »Aber nächstes Mal, nächstes Mal. Du wirst schon besser. Ich habe mich mehrmals gefürchtet.« Das sagte er ebenfalls jedes Mal. Es war unerträglich. Ich würde einiges dafür geben, Lars schachmatt zu setzen, bevor ich sterbe.
Nachdem ich meine Testergebnisse erfahren und meine Dissertation abgeschlossen hatte und während mein Vater immer noch im Sterben lag – er lag schon so lange im Sterben, dass
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