Das Leben ist groß
niemand weinen hörte.
Ich brachte jedes Wochenende wechselnde Männer mit nach Hause, und Claire sagte nichts weiter dazu, als dass ich mir mehr Mühe bei der Auswahl geben könnte. »Ich weiß, dass es dir mies geht, und ich verstehe das«, sagte sie. »Aber in dem Bereich könntest du dich ein bisschen mehr anstrengen.«
Inzwischen ist natürlich alles anders, und ich blicke mit einer Art grimmigem Amüsement auf jene Zeiten zurück. Es grenzt an ein Wunder, dass ich mir auf dem College nicht mindestens eine ungewollte Schwangerschaft eingefangen habe – und schlimmstenfalls eine HIV-Infektion. Einer der Männer hat mich sogar danach gefragt – ein Burschenschaftler, ausgerechnet –, als ich schulterzuckendauf das Kondom verzichtete, das er mir hinhielt. »Hast du gar keine Angst vor Aids?« Nein, eigentlich nicht, antwortete ich und dachte insgeheim: Bitte, bitte, bitte lass mich Aids kriegen, damit ich an einer Lungenentzündung sterbe, damit mein Hirn zuletzt aussetzt und damit ich selbst diejenige bin, die stirbt, nicht irgendjemand sonst.
Irgendwie schaffte ich knapp meinen Abschluss. Mein Hauptfach war Philosophie. Eine falsche Prämisse, die zu einer falschen Konklusion führt, ist logisch gültig, wenn ich mich recht erinnere. Dann promovierte ich in Vergleichender Literaturwissenschaft. Ich befasste mich mit Nabokov.
Manchmal lachen die Leute bei dem Gedanken, ihr ganzes Leben im Elfenbeinturm zu verbringen: Sie brauchen eine Ewigkeit bis zum Abschluss, sagen sie, häufen Wissen an, das sie niemals werden anwenden können, und befassen sich mit Interpretationen von Interpretationen einer Welt, von der sie keinerlei Erfahrung haben. Der Akademiker lebt in einem System voller potentieller Energie, die nie kinetisch wird. Ich kann darüber weniger gut lachen.
Seit dem College bin ich ruhiger geworden. Ich gehe nicht oft aus, aber ganz selten – vielleicht ein, zwei Mal in den vergangenen fünf Jahren –, begegne ich jemand Interessantem, jemandem mit trockenem Humor und bissigem Intellekt, von dem ich objektiv weiß, dass ich ihn in einem anderen Leben begehrenswert gefunden hätte. Ich kann dieses andere Leben sogar sehen, wenn ich die Augen zusammenkneife, aber es fehlt mir nicht besonders. Ich betrachte es wie anderer Leute Urlaubsbilder. Und wenn doch Einsamkeit und Sehnsucht aufkommen, fühlt es sich an wie die Berührung einer Hand durch ein Stück Stoff hindurch – abgekoppelt und beinahe fremd.
Ich begann, samstags auf dem Harvard Square gegen die runzligen alten Männer Schach zu spielen, die dort für einen Dollar pro Partie jeden Herausforderer besiegten. Ich bin nicht zu einem Schachwunderkindherangewachsen – und habe übrigens auch sonst keine überragenden Talente. Aber irgendetwas an der Choreographie des Spiels fasziniert mich, an der Art, wie jeder Zug den nächsten nach sich zieht. Die Könige sind treffende Metaphern für uns Menschen: von einem rigiden Regelsystem zur Untätigkeit verdammt, wehrlos Angriffen von allen Seiten ausgesetzt und höchstens in der Lage, durch einzelne Schritte in eine beliebige Richtung vorübergehend den Kopf aus der Schlinge zu ziehen.
Die Schachmänner tauchten ohne jede Vorwarnung Anfang März an den Tischen auf, saßen im Dunst ihrer Kaffeebecher und warteten darauf, dass der Rest der Welt es ihnen nachtat und zum Leben erwachte. Sie kamen vor den Schaustellern – den lebenden Statuen, die sich gegen Kleingeld ruckhaft in Bewegung setzten, den silbrig-schwarzhäutigen Plastikeimertrommlern, den irren Propheten, die den Passanten bis ins letzte grauenhafte Detail das Ende der Welt ausmalten. Die Schachmänner kamen, bevor die nächste Ladung ambitionierter junger Akademiker die Straßen verstopfte, bevor die College-Schüler überall auf dem Square ihre unnatürliche Bräune und Lässigkeit zur Schau zu stellen begannen und bevor ganz Cambridge so weit zu sich gekommen war, dass es wieder gegen die jeweils aktuelle außenpolitische Katastrophe demonstrierte. Mein Lieblingsgegner war ein Mann namens Lars, der sich mit so viel heiligem Ernst dem Spiel widmete, dass ich immer wieder vergaß, wie leicht er hätte aufstehen und gehen können, wenn er nur gewollt hätte. Als ich ihn zum ersten Mal traf, musterte er mich kurz und sagte: »Du siehst aus wie jemand, der sich selbst mehr leidtut als unbedingt nötig.«
Ich war ziellos umhergewandert, wie ich es damals häufig tat. Das war zwei Jahre nach den Testergebnissen, und ich hatte meine
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