Das Leben ist groß
es mir manchmal schwerfiel, mich an eine Zeit davor zu erinnern –, entwickelte ich eine Art triste, einsame Alltagsroutine. Samstags spielte ich mit Lars Schach. Sonntags besuchte ich meinen Vater, der in ein Pflegeheim eingewiesen worden war, als er nicht mehr wusste, wer und wo er war. Ich streichelte ihm den Arm, fütterte ihn mit Pralinen aus der Drogerie und führte muntere einseitige Gespräche. Unter der Woche gab ich an einer Technischen Hochschule im South End eine Einführung in das wissenschaftliche Schreiben. Meine Studenten waren wechselweise schwer von Begriff oder brillant, je nach meiner Laune. Die meisten wirkten desinteressiert, mit halbgaren Meinungen, die sie halbherzig vertraten. Das verblüffte mich immer wieder, schließlich hatte ich selbst in dem Alter ein ziemlichenges Verhältnis zu meinen Ansichten gehabt. Abends blieb ich lange im Büro, während die Kollegen sich einer nach dem anderen zu ihren jeweiligen Verpflichtungen aufmachten – nicht zu ihren Familien, denn die meisten waren in meinem Alter oder jünger, aber zu ihren festen Partnern, ihren Pilatesabenden, Katzen oder Zimmerpflanzen. Ihren aufgezeichneten Fernsehsendungen, Spanisch-Konversationskursen, Tangostunden. Jede dieser Freizeitbeschäftigungen, oder auch alle – fast alle – hätte ich auch wählen können, aber ich habe den Charakterfehler, dass ich es nicht fertigbringe, mich für aussichtslose Fälle zu engagieren. Ein Problem, das ziemlich einsam macht, wenn man selbst so ein aussichtsloser Fall ist.
Bei der Heimkehr fand ich meistens mehrere Nachrichten von meiner Mutter auf dem Anrufbeantworter. Oft ging es darin um Antioxidantien, von denen meine Mutter besessen war. Sie helfen anscheinend gegen Alzheimer und gegen einige Arten Krebs, aber es gibt keinerlei Hinweise, dass sie Einfluss auf den Verlauf von Huntington haben. Doch meine Mutter brauchte ihren gewollten, sorgsam kalibrierten Optimismus zum Überleben – die Sorte positives Denken, die es als Erfolg wertet, wenn etwas langsamer schiefgeht als erwartet. Sie schickte mir Päckchen mit dunkler Schokolade oder getrockneten Blaubeeren oder der Anweisung, sofort eine bestimmte Sorte Spinat zu kaufen, und dazu Zeitungsausschnitte über Menschen, die ihren schweren Schicksalen trotzten. Meine Mutter war nicht verrückt oder verblendet, sie glaubte nicht an Heilkristalle oder Wahrsagerei oder so. Das Sterben meines Vaters hatte sie mit dem Pragmatismus einer Weltkriegs-Lazarettschwester durchgestanden. Aber sie war der Überzeugung, dass das Leben wie der Tod besser oder schlechter verlaufen kann und dass es größtenteils an einem selbst liegt, wie man lebt und stirbt – ein Gedanke, den ich natürlich entsetzlich fand.
Nachdem wir meinen Vater im Pflegeheim untergebracht hatten, zog meine Mutter nach Sedona, Arizona, um herauszufinden, was sich mit ihrem Leben noch anfangen ließ. Sie begann Schmuckherzustellen. Sie fand einen zutiefst sonnengebräunten neuen Partner. Sie holte Schlaf nach. Vermutlich betrachtete sie diese Zeit als kurzes Intermezzo zwischen zwei Tragödien. Ich weiß, dass sie zurückkehren wollte, wenn meine Zeit gekommen war. Der Gedanke, sie für weitere zwei Jahrzehnte Vollzeitpflege aus ihrem gerade erst begonnenen neuen Leben zu reißen, beglückte mich nicht gerade. Die Arme hatte Besseres verdient.
Ich hatte nicht viele Freunde. Das könnte ich meiner allgemeinen Verbohrtheit zuschreiben, und teilweise lag es wohl daran. Doch es kam noch etwas hinzu: Es macht einsam, wenn absolut niemand über die Dinge sprechen will, die einen am meisten beschäftigen. Mein Vater schien für meine Freunde all die Jahre ein Tabuthema zu sein, und selbst seinen Tod ignorierten sie im Großen und Ganzen. Meinen eigenen genetischen Status ließen sie bei Gesprächen geflissentlich außen vor, als sei er eine grauenhafte Missbildung und als seien sie höfliche Fremde. Wer noch niemanden verloren hat, glaubt die Trauer erst heraufzubeschwören, wenn er sie erwähnt. Wer sich nie mit seiner Sterblichkeit auseinandersetzen musste, spricht nicht über den Tod, weil er denkt, er werde erst dadurch real. Und in meinen jungen Jahren hatte keiner meiner Freunde jemand anderen begraben müssen als seine Großeltern oder seinen Hund. Also erkundigte sich niemand nach meinem Vater. Also erkundigte sich niemand nach mir. Und Trauer, die nie Ausdruck findet, geht irgendwann in Verbitterung über.
Auch mein Vater muss in den Jahren vor seinem endgültigen
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