Das Leben ist groß
seinen Gesichtsausdruck, obwohl er uns zu glauben schien, dass das keine Rolle spielte. »Kann ich anfangen?«
»Wann immer Sie die Muse küsst«, sagte Viktor.
Gogunow wartete noch ein paar Augenblicke, dann fing er an. »Ich war Wachmann auf dem Militärstützpunkt«, sagte er. »In der Nacht hätte ich normalerweise keinen Dienst gehabt.«
»Und welche Nacht war das?«, fragte Viktor.
»Das war am 30. August 1999.« Dass er vor laufender Kamera sprach, ließ Gogunow – obwohl weder sein Gesicht noch seine Stimme zu erkennen sein würden – höflicher, beinahe unterwürfig werden. Ich begriff, dass dieser Mann – dieser Drogendealer, dieser Soldat – an leichter Vortragsangst litt.
»Die Nacht vor dem ersten Sprengstoffanschlag«, sagte Viktor.
»Genau.«
»Dem in der Einkaufspassage.«
»Genau«, sagte Gogunow. »Ich hatte die Schicht mit einem der anderen Wachmänner getauscht, der an dem Abend krank war. Er war andauernd krank – vielleicht hat er simuliert, das weiß ich nicht –, aber mir war es so oder so recht. Wir hatten einen Deal. Ich war nicht für das RDX-Silo zuständig, aber ich hatte es gut im Blick. Meistens verbrachten wir die halbe Schicht damit, Cognac zu trinken und einander zu verarschen. Aber an dem Abend hatte ich darauf verzichtet und stand an der Tür. Ich war stocknüchtern, und ich weiß, was ich gesehen habe.«
»Warum haben Sie an der Tür gestanden?«
Gogunow wand sich. »Weil ich meiner Frau texten wollte, um ehrlich zu sein, und nicht wollte, dass die Jungs es mitkriegten. Ich hatte gerade erst mit SMS angefangen, und sie wollte dauernd, dass ich ihr schreibe. Da hätte ich es schon wissen müssen. Wir waren sieben Jahre verheiratet, und das mit den SMS hätte mich warnen müssen. Nehmt das nicht mit rein, okay? Das schneidet ihr doch raus?«
»Ja«, sagte Viktor müde. »Wahrscheinlich.«
»Also. Es war ungefähr gegen Viertel vor drei morgens. Da kam ein Lastwagenkonvoi, und jemand machte ihnen das Tor auf.«
»Was haben Sie sich zu dem Zeitpunkt dabei gedacht?«
»Der Stützpunkt gehört dem Militär. Von denen wird er genutzt. Es ist nichts Besonderes, dass sie solche Materialien bestellen – auch wenn das vor dem zweiten Krieg seltener passierte und noch seltener mitten in der Nacht.«
»Und?«
»Und es tauchte nicht im Protokoll auf, was, wie man sich denken kann, ein ziemlich ernstes, ziemlich ungewöhnliches Versäumnis war.«
»Und dann?«
»Dann weiß ich nicht, was weiter mit dem RDX passiert ist. Ich weiß nur, dass es um drei Uhr nachts vom Stützpunkt abgeholt wurde, und zwar von Militärs. Es hat keinen Einbruch gegeben. Keine Tschetschenen.«
Wir ließen die Kamera alles sehen. Wir ließen jeden, der den Film einmal ansehen würde, alles hören, was er sagte. Gogunow beugte sich vor.
»Und da war noch was«, sagte er. »Einer meiner Kollegen hat mir gegen Viertel nach drei, nach der halben Schicht, einen Tee gebracht. Er hat ihn mir gegeben, und ich habe einen Schluck getrunken und ihn sofort ausgespuckt. Er schmeckte widerlich – schlimmer als ranzig, also nicht, als wäre was Pflanzliches vergammelt, sondern wie etwas, das man überhaupt nicht trinken sollte. Ich hätte ihm fast vor die Füße gekotzt. ›Was zum Teufel ist das?‹, habe ich ihn gefragt. ›Tee‹, hat er gesagt. ›Was hast du da reingetan?‹, habe ich gefragt. ›Das schmeckt wie pures Gift.‹ Das tat es wirklich. ›Wieso?‹, fragt er. ›Ist die Milch schlecht geworden? Es ist bloß Tee mit Milch und Zucker.‹ – ›Was für Zucker denn?‹, frage ich, weil uns der Zucker ausgegangen war. ›Aus dem Lastwagen‹, sagt er. ›Ich habe ihn aus einem der Säcke genommen. Nur ganz wenig.‹ – ›Aus welchen Säcken?‹, habe ich gefragt. Und dann binich nachsehen gegangen. Auf den Säcken im Lastwagen stand tatsächlich ›Zucker‹ drauf. Am nächsten Tag ging in Moskau die Einkaufspassage hoch.«
Er nahm einen Schluck von seinem Cocktail. Er entspannte sich allmählich. Die Kamera begann ihm zu gefallen.
»Ich weiß nicht, was aus dem RDX geworden ist. Nicht sicher jedenfalls. Aber ich weiß genau, dass der Stützpunkt in Perm nicht, zu keinem Zeitpunkt, auf die bewaffnete Verteidigung von Zuckervorräten ausgelegt war.«
Er sah in die Kamera. »Das war’s«, sagte er. »Ihr könnt ausmachen.«
Viktor schaltete die Kamera ab. »Das war sehr hilfreich«, sagte er. »Das war uns wirklich eine große Hilfe.« Er begann, die Spinnenbeine der Kamera
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