Das Leben ist groß
ausgearbeitet hatte. Nach diesem Ereignis sollten Viktor, Boris und ich nach Perm fahren und versuchen, mit dem Leutnant ins Gespräch zu kommen, den Valentin Gogunow erwähnt hatte. Wenn dieser Leutnant zugab, dass an dem Diebstahl in Perm das Militär beteiligt gewesen war, waren die Ermittlungen zur Beteiligung der Regierung an den Anschlägen abgeschlossen. Dann hatte der Film seinen Zweck erfüllt. Und dann würde Alexander – als Reaktion auf die aufkeimende Wut, getragen von einer Welle intensiver populistischer Gefühle – die Kandidatenwahl des Alternativen Russland gewinnen. Davon, die Präsidentschaftswahl zu gewinnen, konnte keine Rede sein.
Und danach? Was würden wir tun, wenn Alexander nominiert worden war? Wenn er sich in einem Land, in dem es keine echten Wahlen gab, als Gegenkandidat hatte aufstellen lassen? Wenn er sich mittig im Fadenkreuz eines Gegners platziert hatte, der das Monopol auf die Munition besaß?
Wir wussten es nicht. Was nur heißen soll, dass wir glaubten, es zu wissen, und zu höflich waren, darüber zu reden.
Im Hostel wurde ich mittlerweile als wunderliche, tendenziell unbequeme Eigenart des Hauses angesehen, wie der immer leicht verstopfte Abfluss oder die Kaffeebecher im Küchenschrank, die immer schmutzig aussahen. Ich weiß nicht, was die Betreiber von mirhielten. Sie hatten noch nie einen Gast gehabt, der so lange blieb; bestimmt dachten sie, ich würde überhaupt nie wieder gehen. Seit ich dort wohnte, hatte ich Hunderte junge Leute kommen und gehen sehen. Ich hatte sie in Dutzenden Sprachen turteln und streiten und einander kennenlernen sehen; sie diskutierten über Literatur, ließen ihre Philosophiekenntnisse durchblicken und gaben ätzende Kommentare zum politischen Geschehen in den Herkunftsländern ihrer Gesprächspartner ab. Da war eine weißrussische Stripperin (»Ich arbeite in der Klubbranche«, sagte sie, »verstehst du?«). Da waren zwei Verlobte, die sich mitten in einer grauenhaft kalten Februarnacht auf der Straße vor dem Hostel für immer zerstritten. Da war eine ältere Dame aus Japan, die mit niemandem dieselbe Sprache sprach, jeden Tag dieselben Anziehsachen trug und sich jede Nacht zum Schlafen an ihren Rucksack schmiegte. Da war eine junge Frau, die ihr Kind verlor, ohne vorher bemerkt zu haben, dass sie schwanger war. Da war eine Dreiundzwanzigjährige, eyeliner-umkränzt und multilingual, die ewig auf ihr Visum wartete, weil sie an der Sorbonne studieren wollte. Da waren zwei gegelte italienische Männer, die mich ununterbrochen anstarrten – der Versuch, sie nie meine Brüste sehen zu lassen, erwies sich letztendlich als aussichtslos. Da war ein junger Mann, der sich pausenlos vor- und zurückwiegte und Zuckerpäckchen aus der gemeinschaftlichen Teeküche neben dem Ausgang stahl. Er sei seit vierzehn Monaten auf Achse, behauptete er.
Dann verschwanden alle wieder, und es kamen neue. Einmal hörte ich, wie einer von ihnen den Rezeptionisten nach mir fragte. »Diese Frau«, sagte er. »Diese ältere Frau, die schon die ganze Zeit hier ist. Wer ist das?«
Ich glaube, er hat »ältere Frau« gesagt. Es hätte auch »alte Frau« sein können. Und was war dagegen einzuwenden? Hatte ich den Titel etwa nicht verdient?
»Ach, die«, sagte der Rezeptionist. »Keine Ahnung. Die wohnt hier.«
Es überraschte mich, das zu hören, aber es stimmte natürlich, dass ich dort wohnte – sofern man überhaupt noch behaupten konnte, dass ich irgendwie irgendwo wohnte.
Zuerst hatte es mir etwas ausgemacht, von Alexanders Wohnung aus spätabends nach Hause zu laufen – es war eher die Ausnahme, wenn ich einmal keinem pöbelnden Betrunkenen, keinem aggressiven Bettler und keinem Verrückten begegnete, der dringend hätte eingewiesen werden sollen. Ich war allen möglichen Belästigungen ausgesetzt, weil ich so offensichtlich weiblich war, so offensichtlich fremd (besonders anfangs), und weil ich zu jeder Tages- und Nachtzeit allein unterwegs war. Aber irgendwann im Laufe des Winters verlor der Heimweg seinen Schrecken. Vielleicht lag es daran, dass ich selbst mich unmerklich zu verändern begann – vielleicht wurde meine Haltung selbstsicherer, aggressiver, weniger ängstlich. Vielleicht lag es an der Kälte, die mir immer wieder das Gefühl gab, die Witterung sei letztlich eine größere Bedrohung als alles andere. Oder es kam daher, dass ich inzwischen – mehr noch als zuvor – das Gefühl hatte, es sei nicht wichtig, was mit mir geschah, und dass diese
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