Das Leben ist groß
doch nicht denken, dass wir neuerdings nur noch PR-Stunts betreiben.«
»Vielleicht kann ein Stunt gerade jetzt gar nicht schaden. Vielleicht ist ein bisschen politisches Theater gar nicht verkehrt. Ichjedenfalls habe unsere üblichen Tricks allmählich über. Irina, schreib uns doch mal einen Ablaufplan.«
»Ich?«, fragte Irina. Viktor und Boris tauschten finstere, vielsagende Blicke aus, aber das kümmerte Alexander nicht. Immer wenn Irina etwas Sinnvolles zu tun hatte, schien es ihr besser zu gehen; ihre Depression schien, soweit er das einschätzen konnte, eine rein pragmatische zu sein. Vielleicht war so ein Projekt gut für sie – nicht dass er gewusst hätte, was für einen Menschen in ihrer Lage, worin auch immer sie bestand, gut oder schlecht war.
»So«, sagte Alexander. »Und jetzt raus mit euch.«
Am selben Abend lief Alexander in seinem Arbeitszimmer auf und ab und dachte an die Zukunft. Am Himmel blinkten die kosmisch grünen Lichter eines winzigen Flugzeugs. Er dachte daran, was passieren würde, wenn der Film herauskam. Wenn es so weit war, dachte er, konnte er sich offiziell von dem Alternativen Russland zum Kandidaten küren lassen. Und von da an hätte der Kreml Angst vor ihm, und er hätte noch immer Angst vor dem Kreml, und sie würden in einem Zustand nervöser gegenseitiger Hochachtung erstarren. Wie ein beidseitiger Zugzwang beim Schach, wenn es für jeden der beiden Spieler von Nachteil ist, am Spiel zu sein.
Aber ganz so stimmte es nicht. Gegen Putin anzutreten war eher wie der Kampf gegen diesen grauenhaften Computer – man konnte nichts tun, das er nicht längst vorausgesehen hatte. Die Wahl war längst entschieden, Putins Nachfolger längst ausgewählt und hergerichtet; offen blieb nur, welcher seiner Lakaien es sein sollte und wann es offiziell bekanntgegeben würde. Kein russisches Kino würde den Film zeigen, und Alexander bildete sich nicht ein, ihn im Fernsehen platzieren zu können. Er setzte seine bescheidenen Hoffnungen in das Internet, in YouTube, raubkopierte DVDs und Mund-zu-Mund-Propaganda. In Menschen, die auf den Straßen Schmuggelware von einem zum Nächsten weiterreichten. So hatte es schon einmal – beinahe – funktioniert.
Das Flugzeug zog jetzt seine Bahn mitten über der Stadt. Ein Gefühl der Einsamkeit ging von seinem Anblick aus: Die kalt aufblitzenden Farben des Flugzeugs, das Gewirr der Gebäude unter ihm und dazwischen der gewaltig leere Himmel.
Das wäre alles, dachte er: Eine Woche, zehn Tage vielleicht würde es aussehen, als hätte er eine Chance. Er hätte sie nie, natürlich nicht, aber vielleicht könnte er – eine Woche, zehn Tage lang – genug Menschen vormachen, er hätte sie. Vielleicht würden sie endlich wütend werden, und vielleicht würden sie anfangen, ernsthaft Unruhe zu stiften.
Aber vielleicht, dachte er, vielleicht auch nicht. Vielleicht würde die eine Woche kommen und gehen, der Film würde angesehen und vergessen werden, seine Kandidatur würde ignoriert und Putins handverlesener Nachfolger – der Mann, der ihm vier oder acht Jahre lang den Stuhl frei hielt, bis Putin ihn wieder in Besitz nahm – würde seelenruhig dem Sieg entgegengehen.
Draußen vor dem Fenster blinkten die Lichter der Büros wie Leuchtfeuer, und die Newa färbte sich in der winterlichen Dämmerung silbergrau. Das kleine Flugzeug glitt aus Alexanders Sichtfeld – aus dem Umkreis der Stadt, aus der Reichweite der Lichter – in eine andere, tiefere Dunkelheit.
KAPITEL 18
Irina
St. Petersburg, März 2007
Zwei Monate vor dem angesetzten Termin begannen Viktor und ich die Trauerfeier für die Demokratie anzukündigen. Wir benutzten das Internet – hauptsächlich VKontakte –, was uns das Interesse einiger Studenten einbrachte. Wir drehten ein Video, das sich mäßig viral verbreitete. Aber das Entscheidende waren die Plakate.Wir fanden die Idee lustig, uns verschiedene Piktogramme für die tote Demokratie auszudenken – mit einem Messer im Rücken, einer Kugel im Kopf oder X-förmigen Augen. Die druckten wir aus und verteilten sie in Cafés, Studententreffs und Wohnheimen. Die Plakate wirkten ironisch und brachten Alexander tatsächlich ein bisschen Prestige ein. Schon bald rissen die Studenten sie von den Wänden, um sie in ihren Wohnheimzimmern aufzuhängen, so dass ich dieselben Orte mehrfach besuchen und für Ersatz sorgen musste.
Die Trauerfeier für die Demokratie war Teil eins eines dreiteiligen Aktionsplans, den Alexander für den Sommer
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