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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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müssen. Ich hatte geweint. Ich hatte Beziehungen abgebrochen. Ich hatte Angst vor meinem eigenen Schatten gehabt. Ich war weggelaufen. Würde es nicht am Ende, hatte ich mich gefragt, auch befreiend sein? Würde es mir nicht letztendlich helfen, meinen Frieden zu finden?
    Das war es nicht, und das tat es nicht. Es war grauenvoll. Es war unvorstellbar grauenvoll. Es war so ungeahnt grauenvoll, wie ungeahnteSchönheit schön ist. Es war eine Neuerfindung, eine Umkehrung, eine Offenbarung.
    Ich kehrte zu Alexander zurück, und ich lernte wieder zu tippen und mich normal zu unterhalten und morgens aufzustehen und zu tun, was man mir sagte. Aber es war eine andere Welt – an dem Tag und an jedem Tag, der folgte: fehlübersetzt, entstellt, verkehrt. Die Welt hatte sich so verändert, dass ich sie kaum noch wiedererkannte. Wir hatten nichts gemeinsam, sie und ich, und schwiegen uns manchmal stundenlang nur an. Irgendwann gab ich es auf, mich mit ihr verständigen zu wollen. Und ich sagte zu mir selbst, während ich mich Schritt für Schritt von ihr entfernte, dass sie mir sehr schnell sehr fremd geworden war.

KAPITEL 19
    Alexander
    St. Petersburg, Juni 2007
    Der Sommer schwebte still und leise auf St. Petersburg herab, wie jemand, der unbemerkt in ein Zimmer zu schlüpfen versucht. Eschen und sibirische Birken blühten an den Straßenrändern; die Kanäle erzitterten unter immer milderen Winden. Am Horizont ballten sich die Wolken zusammen, spalteten und zogen sich auseinander wie träge Pupillen. Alexander sah vom Fenster aus zu.
    Manchmal konnte er an Ninas Geruch das Wetter erraten, wenn sie, mit raschelnden Taschen behängt, von einer Shoppingtour mit ihren Freundinnen wiederkehrte – er roch die Sonne, die milde Luft, die längeren Tage in ihrem Haar, auch wenn sie sich ihm schnell entwand, sobald er sich ihr näherte. Manchmal fand Alexander an der Tür zart sonnenbehauchte Blätter, Zweige oder Blütenblätter, Überbleibsel eines Lebens, das sich draußen in der Welt abspielte, und dann nahm er ein Blütenblatt zwischen Daumenund Zeigefinger, um das Öl darin zu fühlen und zu sehen, wie es sich unter dem Druck verfärbte. Und manchmal saß Alexander nachts am Schreibtisch wach, riss das Fenster auf und trank in tiefen Zügen die Luft, die in mal lieblichen, mal ranzigen Brisen hereinwehte. Es roch nach Hortensien und Bittersüßem Nachtschatten und Maiglöckchen, und es roch nach all den Dingen, die im Winter in den Schnee gefallen und festgefroren waren und die jetzt als unkenntliche schwarze, zähe Fossilien wiederkehrten: verlorene Schuhe und Büstenhalter und Liebesbriefe, empörte Zeitschriften mit strengen Lettern, leuchtend pinkfarbene Klatschmagazine.
    Er erinnerte sich daran, wie er die Flugschriften ausgetragen hatte, damals, als die Stadt noch Leningrad hieß, als er noch ausgehen durfte. Unter der Herrschaft eines maroden Regimes hatte er sich eine Art schlechtberatene Freiheit erlaubt. Damals hatte er zumindest frühmorgens oder in frostkalten Nächten vor die Tür schlurfen können. Er hatte im brüchigen Licht des nageldünnen Mondes gestanden, war an gewaltigen Denkmälern vorüberspaziert, die sich heroisch und monströs dem Strom der Zeit entgegenstemmten. Damals hatte er Verbündete gehabt und den Überschwang der Jugend. Und eine Frau, die er aus der Ferne lieben konnte, was ihn auf seinen langen Wegen durch die Stadt beschäftigt hielt. Elisabeta hatte etwas in ihm ausgehebelt, das er sein Leben lang nicht würde einrenken können; und auch darin, auch in diesem ganz speziellen aussichtslosen Fall, hatte eine bittersüße Freude gelegen.
    Er schüttelte sich und ließ seine Halswirbel knacken. Es war beschämend genug, derart lange ein und dieselbe Frau zu lieben. Noch schlimmer war es, voller deplatzierter Nostalgie auf den Kommunismus zurückzublicken. Er begegnete solchen Gefühlen oft in den Beschwerdebriefen griesgrämiger alter Herrschaften, für die Breschnew und Andropow und Tschernenko den Hintergrund ihrer ersten Liebschaften, ihrer Heirat, ihrer jungen Familie abgegeben hatten. Für die Briefeschreiber waren die alten Zeiten mit einer Süße, einer Unschuld, einem Optimismus getränkt, der – soverfehlt er vielleicht gewesen war – immer noch besser schien als die Alternative. Alexander antwortete ihnen dann: Sehr geehrte Dame, sehr geehrter Herr, danke für Ihren Brief. Ich kann Ihre Gefühle nachvollziehen. Aber ich glaube, dass es nicht das Regime ist, das Sie vermissen,

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