Das Leben ist groß
groß, dass die Geistesschwäche meinen Willen zersetzte, dass ich mich hinter dem näher rückenden Vergessen verkroch und dem einzig möglichen Ausweg den Rücken kehrte.
Ich konnte diese Abläufe in einem intellektuellen Sinn verstehen. Ich hatte mir den wissenschaftlichen Hintergrund angeeignet und die Artikel gelesen; ich hatte die Grammatik und das Vokabular der Krankheit auswendig gelernt. Und ich kannte sie auch im nicht-intellektuellen Sinn. Ich hatte die Arme meines Vaters wie Windmühlen kreisen sehen, hatte die Angst und die Wut von seinen Augen abgelesen und gesehen, wie er sich an Wasser und Worten verschluckte.
Aber es gibt einen Unterschied zwischen Dingen, von denen man objektiv weiß, dass sie wahr sind, und Dingen, die man subjektiv spürt; zwischen Dingen, die man irgendwo im Kopf versteht, und Dingen, die man von innen heraus begreift, intuitiv, hinter dem Herzen. Wir wissen, dass das Weltall unendlich ist, und wirverstehen die Kontingenz der Zeit, und wir haben eine wissenschaftliche Notation für die Größe eines Atoms. Aber wenn wir versuchen, diese Dinge auf irgendeine Art und Weise wirklich zu erfahren, versagen wir. Wir haben die Grenzen unseres Verständnisses erreicht und müssen uns mit der unbequemen Tatsache abfinden, dass es Wahrheiten gibt, die ziemlich weit jenseits unseres Vermögens liegen, und sie für wahr zu halten.
Dann folgten mehrere Tage im Bett. Ich weiß nicht, wie ich sie zugebracht habe.
Ich weiß doch, wie ich sie zugebracht habe. Im Fenster: ein Keil aus weißem, geschwächtem Licht. Am Boden: Schatten, die vom Morgen bis zum Abend durch das Zimmer schlichen. Ich begann mir vorzustellen, Licht und Schatten seien in eine Art Wettkampf verstrickt, in ein Strategiespiel. Aber die Schatten gewannen jedes Mal, und es wurde langweilig zuzusehen.
Ich glaube, nach den ersten paar Tagen fing der Rezeptionist an, mir Brot und Tee vorbeizubringen. Und einmal, glaube ich, tauchte Viktor im Empfangsbereich auf – vermutlich auf Alexanders Anweisung hin – und erkundigte sich nach meinem Gesundheitszustand.
Es war kein körperliches Fieber, aber doch ähnlich: das Gefühl, mein Kopf schwebe meterweit über dem Rest meines Körpers; meine hingebungsvolle Faszination für die Risse in der Zimmerdecke und die alternden Schmutzflecken am Boden. Die Art, wie Träume die Realität verdrängten, bis ich nicht mehr auseinanderhielt, welches welches war.
Und hin und wieder – nicht oft, aber immer regelmäßiger – eine Zuckung im Arm, im Bein. Meine Finger schnellten gegen die Bettdecke. Meine Beine traten, traten wütend, immer ins Leere.
Vielleicht dauerte es eine Woche, so genau weiß ich es nicht. Dann stand ich auf, stellte mich unter die Dusche und aß vier Sandwiches vom Spätkauf-Laden nacheinander.
Ich erinnerte mich daran, warum ich nach St. Petersburg gekommen war. Ich dachte an die Fragen meines Vaters – meine Fragen: wie man angesichts der Katastrophe weitermachen soll, wie man würdevoll die letzten Züge eines verlorenen Spiels ausführt. Ich dachte an Alexanders Morddrohungen und an Nikolais frostigen Atem auf meinem Gesicht und an den Film, der so oder so gedreht werden würde. Alexanders Leben war eine Art Antwort auf diese Fragen, eine Art Vorlage für das Weitermachen. Ich wusste, dass mein Leben dasselbe würde leisten müssen.
Ich beschloss, trotzdem nach Perm zu fahren. Es war meine Pflicht. Und es war meine letzte Frist. Was konnte ich über mein kurzes Leben sagen, wenn ich ehrlich war? Ich hatte ein paar Schülern die korrekte Verwendung des Semikolons erklärt. Ich hatte ein paar Menschen, die mich liebten, furchtbar unglücklich gemacht. Wenn ich nach Perm fuhr und wenn wir dort etwas Wichtiges zu Tage förderten, gäbe es zumindest das. Es gäbe zumindest eine Rechtfertigung für diese Reise. Eine Rechtfertigung für dieses Leben. Es gäbe eine Geschichte, die sich für eine schöne Grabrede eignen würde, wenn jemand auf die Idee käme, eine zu halten.
In ferner Vergangenheit hatte es Momente gegeben – in Träumen, in fiebrigen Alptraumschüben, in Tagträumereien (ängstlichen und unruhigen, rachsüchtigen, kleinlichen, selbstmörderisch depressiven, gespannten, verhalten optimistischen) –, in denen ich mich fragte, ob es nicht auch eine Erleichterung wäre, wenn es geschah. Ich hatte zehn Jahre lang jeden Tag, jeden einzelnen Tag daran gedacht. Ich hatte es beim Aufwachen vergessen, besonders anfangs, und mich dann wieder daran erinnern
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