Das Leben ist groß
alles aufs Spiel setzen, um tanzen zu gehen?«
Nina sah zu Boden. Ihr Gesicht wurde ausdruckslos.
»Es tut mir leid«, sagte er. »Es ist nicht so, dass ich keine Lust hätte, mit dir auszugehen. Es ist nur einfach nicht machbar. Ich weiß, dass du das auch verstehst.« Er versuchte ihre Hände zu ergreifen, aber sie hielt sie zu unnachgiebigen Knospen geballt. Eine ganze Weile stand sie nur schweigend da.
»Ninotschka«, sagte er. »Bitte.«
»Glaubst du wirklich, dass du die Wahl gewinnen kannst?«, fragte sie heiser.
»Gewinnen?« Er hörte auf, nach ihren Händen zu greifen. »Nein, Nina. Nein, natürlich nicht.«
»Natürlich nicht?« Sie hob den Kopf und sah ihn an. Durch ihre Haut schimmerten Adern hindurch, blau, ein wenig erhaben und von all den Gefühlen durchpulst, die zu ihrem fernen, rätselhaften Herzen flossen. Es musste merkwürdig sein, wenn einem die Verletzlichkeit so offen ins Gesicht geschrieben stand.
»Wie«, fragte er zögernd, »wusstest du das denn nicht?«
»Ich wusste nicht, dass du dir so sicher bist.«
»Ich hätte es sagen sollen.«
Sie senkte wieder den Blick. Eine leichte kinetische Spannunglag in der Luft, die er aus seiner Zeit als Schachspieler kannte – von jenen Momenten, wenn er irgendwo tief unten in der Großhirnmasse wusste, was geschehen würde, ohne noch zu verstehen, weshalb.
»Du hältst das alles für einen Witz«, sagte sie. »Aber als ich dich kennengelernt habe, warst du ein ganz anderer Mensch. Du hast das Leben genossen. Du hattest Spaß daran, Leute zu treffen und auszugehen und dich zu amüsieren. Aber so ist es jetzt nicht mehr. Wir können nirgendwo hin, wir können überhaupt nichts unternehmen, und wenn ich eine Party geben will, kann ich kein Essen liefern lassen und muss jeden Gast abtasten, bevor er in die Wohnung darf. Das ist doch kein Leben, Grib.«
Er schielte sehnsüchtig zu seinen Notizen hinüber. Es würde inzwischen eine ziemlich lange Nachtschicht werden. »Es tut mir leid, Nina.« Und das tat es. Es tat ihm furchtbar leid. Aber er hatte sich seit fast einem Jahrzehnt mit jeder Geste, jedem Vorstoß und jedem Rückzug bei ihr entschuldigt. Gab es noch kreativere Methoden, zu Kreuze zu kriechen, noch einfallsreichere Varianten der Selbstgeißelung? Vielleicht, aber er brauchte seine Kräfte für andere Dinge. Nina würde sich mit ihrer kleinen Auswahl prosaischer Racheakte zufriedengeben müssen.
»Dann tun wir das alles für nichts und wieder nichts?«, fragte sie. »Und du sagst einfach so: ›Natürlich gewinne ich nicht‹? Das ist nicht leicht für mich, Grib.«
»Ich weiß.« Es ergab durchaus Sinn, was sie sagte. Er konnte die Augen zusammenkneifen, den Kopf schief legen und ihren Standpunkt nachvollziehen. Aber sobald er sich in sie hineinversetzte, sah er auch schon die Lösung für ihr Problem. Er kniff die Augen noch fester zusammen, bis sich strahlenförmige Falten um die Lider legten. Dann geh doch, dachte er. Na los. Er schwieg. Er lauschte. Geh, beschwor er sie stumm. Geh. Schließlich tat sie es – aber nur bis ins Schlafzimmer, von wo er das Quietschen der Schranktür hörte und das gedämpfte Wispern des Nachthemds, das die Bettdecke streifte. Eine Weile blieb es still. Und dann warunterdrücktes Schluchzen zu hören, das so ehrlich klang, dass es Alexander vorkam wie das Weinen einer Fremden.
Alexander blieb im Arbeitszimmer, schlief die halbe Nacht beinahe ein und lag die zweite Hälfte beinahe wach. Als sich am Horizont die Morgendämmerung andeutete, rot wie eine schwärende Wunde, gab Alexander es auf und versuchte zu arbeiten. Irina und Boris kamen um neun Uhr leise herein und trugen ihre Papierstapel in zwei gegenüberliegende Ecken des Raums. Um zehn kam mit angespanntem Unterkiefer und abgehackten Bewegungen Viktor ins Arbeitszimmer. Er hielt eine Ausgabe der Nowaja Gaseta in der Hand. »Hier, Boss«, sagte er. »Hast du das gesehen?«
Er gab Alexander die Zeitung. Auch für Irina und Boris hatte er zwei Exemplare mitgebracht. Sie schlugen die Zeitungen auf der Leserbriefseite auf. In großen Lettern stand dort die Überschrift: Alexander Besetow – der richtige Oppositionskandidat für unser Land? Während Alexander las, spürte er das Toben und Pulsieren der Adern in seinem Hinterkopf. Er erkannte darin die Physiologie kalter Wut.
Sehr geehrte Damen und Herren,
viele Unterstützer der Reformbewegung sehen in Alexander Besetow einen bedeutenden Vertreter der Opposition; viele hoffen sogar, er könnte
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