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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Mal allein im Treppenhaus erwischen, würden sie dich sofort umbringen.«
    »Habt ihr das gelesen?«, fragte Alexander. »Habt ihr es gelesen?« Ihm wurde bewusst, dass er auf und ab lief und vielleicht sogar brüllte. »Das hier wird die neue Verteidigungslinie. Das wird das Mantra. Ich muss hin. Er lässt mir keine andere Wahl.«
    Boris schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Nein«, sagte er. »Nein, das glaube ich kaum. Ich mache das nicht mehr. Ich steige aus. Ich fahre da nicht hin. Das kannst du nach so einer Nummer nicht von mir verlangen. Nachdem er uns so zum Abschuss freigegeben hat.«
    »Du musst das relativ sehen«, sagte Viktor. »Es ist ein kalkulierbares Risiko, so wie alle anderen auch.«
    »Schwachsinn«, sagte Boris. »Glaubst du, die lesen die Nowaja Gaseta nicht? Glaubst du, sie kriegen das nicht mit? Also bitte.«
    »Krieg dich wieder ein«, sagte Viktor.
    »Herrgott noch mal«, sagte Boris. »Was zur Hölle hast du ihm angetan, dass der Mann solche Sachen schreibt?«
    Alexander wand sich. »Ich wollte nicht, dass er an dem Film beteiligt ist.«
    »Du wolltest nicht, dass er an dem Film beteiligt ist?« Boris trat gegen das Sofa. »Vielleicht, weil er dir ein bisschen zu rechts von der Mitte ist? Ein bisschen zu nationalistisch? Es sind nicht die Nationalbolschewiken, verdammt noch mal. Du hättest doch einen Deal machen können. Und wenn du ein halbwegs fähiger Politiker wärst, hättest du das auch.«
    »Boris«, sagte Viktor. »Hör auf damit.«
    »Aufhören?«, sagte Boris. »O ja, das tue ich. Und ich gehe. Ich könnte mir schon vorstellen, mein Leben für etwas herzugeben, irgendwann mal, aber nicht für so was Idiotisches.«
    »Er hat recht«, sagte Alexander. »Ihr solltet nicht fahren. Keiner von euch. Ihr seid jung. Keiner von euch sollte die Risiken eines alten Mannes tragen. Sich zwischen ihn und seine Feinde stellen. Ich fahre selbst. Ihr könnt alle bezahlten Urlaub nehmen.«
    »Das war’s dann«, sagte Boris und stand auf. »Ich hab genug.« Er verließ das Zimmer. Kurz danach warf Viktor noch einen finsteren Blick auf Alexander und Irina und folgte ihm.
    Alexander ließ seinen Kopf auf den Schreibtisch sinken. Er spürte, wie Irina ihn anstarrte, wie ihre Blicke Zwillingskrater in seinen Nacken bohrten, und es gefiel ihm nicht. Seit sie aus ihrem unangemeldeten Urlaub zurückgekehrt war, hatte sie diesen erschütterten, trauernden, wissenden Blick, den Alexander unerträglich fand, ohne zu wissen, wie er darauf reagieren sollte. Man konnte schlecht jemanden bitten, mit etwas aufzuhören, was offenbar unabsichtlich geschah. Und da war noch mehr – in unregelmäßigen Abständen wurde ihr Gesicht ganz leer, als würde sie sich an etwas Schreckliches erinnern, es wieder vergessen und sich dann doch wieder erinnern. Sie war zittriger als sonst. Ihre motorischen Fähigkeiten – die nie herausragend gewesen waren – wurden immer schlechter, und sie hatte sich angewöhnt, von teuren und zerbrechlichen Gegenständen einen Sicherheitsabstand einzuhalten. Außerdem war sie zum ersten Mal, seit Alexander sie kannte, zu dünn. Sie hatte immer wie eine Bohnenstange ausgesehen, aber jetzt wirkte es, als wollte ihr Knochengerüst seinen Protest kundtun, indem es sich durch die Haut davonmachte. Ihr Schlüsselbein stand vor wie eine Abbruchkante.
    »Hör auf«, sagte er. »Bitte hör auf, mich so anzusehen.«
    »Was soll das werden?«, fragte sie. »Was tust du?«
    »Nichts«, sagte er. »Ich denke bloß, dass dieser gelbsüchtige Schizophrene recht hat, so sehr es mich schmerzt, das zuzugeben. Ich muss nach Perm. Sonst bin ich nicht glaubwürdig.«
    »Dieses Land darf dich nicht verlieren.«
    »Wer sagt mir das? Was habe ich denn schon vorzuweisen? Alles, was ich zu sehen kriege, sind unzuverlässige Umfragewerte und schlecht ausgeführte Studien.«
    »Du siehst doch die Menschenmassen. Du siehst, wie sie deinetwegen kommen. Daran muss ich dich wohl kaum erinnern. Du weißt es. Du benimmst dich absichtlich schwierig.«
    »Ich werde nicht gewinnen.« Er hörte selbst, wie bejammernswert er klang – hörte das Aufstampfen eines heulenden, untröstlichen Kleinkinds in seiner Stimme –, aber er konnte nichts dagegen tun.
    »Dieses Jahr wirst du nicht gewinnen. Das ist klar«, sagte Irina. »Und vielleicht gewinnst du in überhaupt keinem Jahr. Weißt du noch, wie Anna Politkowskaja gesagt hat, dass du nicht Thomas Paine bist, sondern Johannes der Täufer? Du hast recht – vielleicht wirst du

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