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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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eine Frage«, sagte er.
    »Ja.«
    »Die ganze Sache mit den Niederlagen und wie man ihnen begegnen soll –«, sagte er, »glaubst du, du hast darüber was von Alexander gelernt?«
    »Ich bin schließlich hier, oder? Wir sind beide hier.«
    »Und das ist alles?«
    »Ich glaube, alles, was man angesichts des Untergangs tun kann, ist, pünktlich da zu sein.«
    Draußen malten Fledermäuse Schattengespinste an den Himmel. Ich vergrub den Kopf an Viktors Schulter und wickelte mich in die kratzige Decke. Für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe war es noch früh. Unten auf der Straße kam die Stadt in die Gänge wie ein rostiger Automotor, und die ganze Nacht drang ausgelassenes Gelächter zu mir herein.
    Für das Interview mit Simonow hatten wir ein Hotelzimmer im Stadtzentrum von Perm gebucht. Am Tag nach unserer Ankunftfuhren Viktor und ich schweigend dorthin. Die Stadt um uns herum ging an ihren Enden in weiße Felder und in den weiten weißen Himmel über. Die Sonne ging auf und begann ein vorläufiges Licht auszuschwitzen. Ich fuhr mein Fenster herunter und atmete den Geruch von kaltem Matsch und die blutigen Ausdünstungen rostiger Autos.
    Im Hotel bestellten wir mit Hilfe von Alexanders Kreditkarte alles, was der Zimmerservice zu bieten hatte. Nach einer halben Stunde kam Simonow. Er klopfte an die Tür. »Ihr seid also die Filmstudenten?«, fragte er.
    Wir ließen ihn ein. Er hatte ein wettergegerbtes, zerklüftetes, mit einer bescheidenen Auswahl zinkfarbener Zähne bestücktes Gesicht. Von seiner Hand baumelte eine Kalaschnikow herab, schlaff wie ein ausgekugelter Unterarm. Es war eine ungewöhnliche Art, eine Waffe zu tragen.
    »Danke, dass Sie sich mit uns treffen«, sagten wir, und dann sahen wir Simonow eine Weile beim Essen, Trinken und Rauchen zu. Er stocherte in seinem Schweinefleisch herum und schlürfte seine Drinks. Wir bauten die Kamera auf und stellten sie mit gespreizten Beinen in eine Ecke. Simonow musterte sie und begann repetitiv wie ein autistisches Kind mit dem Knie zu wippen. Vielleicht, wurde mir klar, litt er an Lampenfieber.
    Nachdem wir alle ein paar Gläser getrunken hatten, stellten wir Simonow unsere ersten Fragen. Wir befragten ihn nach seiner Kindheit, seiner Karriere, seiner Meinung über die überlegene Größe der russischen Armee. Er trank. Wir tranken. Wir schalteten die Kamera ab, und Viktor machte anzügliche Witze. Simonow lachte. Wir schalteten die Kamera wieder an und fragten ihn nach seiner Meinung zu den Spannungen in Georgien. Irgendwann hieb er mit der Faust auf den Tisch und brüllte, Russland sei der größte Waffenexporteur der Welt. Wir schalteten die Kamera ab. Er erzählte rührselig von seinen Kindern, seiner Frau. »Sie sieht aus wie eine Kartoffel«, sagte er. »Aber bei Gott, ich liebe sie.« Ich schielte zu Viktor hinüber. Wir schalteten die Kamera wieder an.
    »Sie arbeiten schon lange hier in Perm«, flocht Viktor ein.
    »Ja«, sagte Simonow. Er lehnte sich zurück. »Seit zehn Jahren.«
    »Dann waren Sie auch 1999 hier«, sagte ich.
    »Sonst wären es ja nicht zehn Jahre.«
    »Dann waren Sie auch am 30. August 1999 hier«, sagte ich.
    Er verspannte sich. »Ja«, sagte er gedehnt. In dem anschließenden Schweigen klang es, als machte die Kamera selbst ein leises Geräusch – das kaum hörbare Atmen fiebriger Erde oder von etwas, das auf etwas lauert. »Vermutlich.«
    »Haben Sie bemerkt, dass in der Nacht erhebliche Mengen RDX verschwunden sind?«, fragte Viktor.
    Simonow lachte, aber es klang wie eine Warnung. »Das ist ziemlich lange her«, sagte er.
    »Vielleicht wissen Sie es ja noch«, sagte Viktor, »weil es die Nacht vor dem ersten Sprengstoffanschlag war.«
    Simonows Stimme wurde sehr leise. »Schaltet die Kamera ab«, sagte er, und Viktor gehorchte. Simonow sah uns mit einem völlig veränderten Ausdruck an – der Mund stand ihm offen, aber seine Augen verengten sich zu einem harten und überraschend nüchternen Blick. Dann lächelte er. »Eine komische Frage für zwei Filmstudenten.«
    Ich sah Viktor an. Er wandte den Kopf ein wenig zur Seite.
    »Ich weiß, wer ihr seid«, sagte Simonow. »Ich weiß, für wen ihr arbeitet.«
    Ich wollte etwas sagen, aber Simonow winkte ab. »Er wird nicht gewinnen«, sagte er.
    »Nein«, sagte Viktor.
    »Dann sind wir uns ja einig«, sagte Simonow. »Und er dreht diesen Film. Habt ihr wirklich gedacht, ich hätte nicht davon gehört? Habt ihr wirklich gedacht, ich hätte keine Ahnung?«
    Er lehnte sich zurück

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