Das Leben ist groß
ihren Zukunftsaussichten irreparablen Schaden zugefügt haben. Ich ließ Viktor ans Steuer.
Wir schwiegen auf dem Weg am Ufer der Kama entlang. Ich fuhr das Fenster herunter und sah aufs Wasser hinaus – blau wie eine Oberschenkelvene floss sie fünf verschiedenen Seen entgegen. Irgendwo hinter den Bäumen lagen die Ruinen von Perm-36, aber wir hatten nicht die Zeit, danach zu suchen. Selbst wenn wir sie gehabt hätten, wäre wohl nicht viel zu sehen gewesen: Eine geisterhafte steinerne Inselkette, die Spreu eines Stacheldrahtzauns, ein paar verdorrte Bäume. Durch das Wagenfenster wehte moosige, satte Luft herein und der komplexe metallene Geruch der Schwerindustrie. Die Silhouette der Stadt war so seltsam gezahnt, dass es aussah, als hätte sich der Horizont verschoben: Gebäude sprangen, als wir näher kamen, in bizarren Winkeln auf uns zu, und in der Ferne spürten wir die imposanten Massen des Urals, die gekrümmten Bergrücken, die wie versteinerte Oger den Zugang nach Asien bewachten. Und zwischen ihnen, wer weiß, matte Flecken interkontinentalen Lichts, die ihre Konturen ausleuchteten und die Vorgebirge in Lampiongirlanden verwandelten. Und noch dahinter: sieben weitere Zeitzonen. Fast konnte man sie sehen, wenn man die Augen zusammenkniff: Zehntausende Weizenfelder, überwucherte Agrarkollektive, wo die Natur die Industrie zurückgedrängt hatte. Die unbeugsame Taiga, von einzelnen Spuren des sonderbaren Universums leicht gesprenkelt: ein verfallenes Raketensilohier, da ein Kometenkrater. Und jenseits davon: eine Ansammlung von Inseln aus Vulkangestein, und dann Amerika. Wenn ich die Augen schloss und daran dachte, wurde mir beinahe schwindelig. Ich bin nicht bereit zu sterben. Noch lange nicht. Mir ist noch nicht einmal die Tatsache langweilig geworden, dass die Erde eine Kugel ist.
Draußen vor den Fenstern leuchtete eine brutale Sonne, grell und abschreckend wie ein bloßgelegtes Organ.
Wir checkten in einem Hostel ein, das meinem alten Hostel ähnlich war. Ich dachte an meine Sachen in jener Unterkunft, die so etwas wie ein Zuhause gewesen war – meinen Stapel aus Myriaden von Büchern und Anziehsachen, aus lauter Dingen, die ich bald würde unerbittlich prüfen und verstauen müssen wie ein Pathologe bei der Autopsie. Besser, ich ließ gar nichts zurück als so wenig – gerade genug, dass die Leute erkennen konnten, dass ich Krieg und Frieden nur zu zwei Dritteln gelesen hatte und eine Vorliebe für Hemden mit Krägen besaß.
Wir fanden wortlos unser Zimmer und ließen die Koffer auf die Krankenhausbetten plumpsen. Viktor drehte sich in seiner Ecke zur Wand und zog sich um. Ich musterte ihn mit einem Gefühl, das ich als eine Art Begehren erkannte, obwohl es ein wenig ausgebleicht, ein bisschen blutleer war. Es hatte nichts mit ihm persönlich zu tun, glaube ich – obwohl er durchaus schöne Augen hatte. Sondern er war ein Mann, wir waren in einer Art Hotel, und ich lag im Sterben. Und Sex steht in dem Ruf, einen mit der Ewigkeit oder der Unendlichkeit in Kontakt zu bringen oder so ähnlich – auch wenn ich befürchtete, er könnte in diesem Kontext genau das Gegenteil tun. Vielleicht würde das Aufklatschen von Haut auf Haut mich gerade umgekehrt an unsere sture Körperlichkeit erinnern. Vielleicht müsste ich an die Evolution denken, an Genetik und Kontinuität, an die Zukunft, und vielleicht müsste ich daran denken, dass Sex seinem Wesen nach ein Akt der Hoffnung war, und dann ginge es mir danach schlechter, als wenn wir gar nichterst damit angefangen hätten. Außerdem war Jonathan nicht hier – das Leben mit ihm war unwiederbringlich, ob ich nun umkehrte und am nächsten Tag nach Hause flog oder ob ich mich eine Nacht lang an die Knochen eines anderen klammerte.
Ich hatte es mir gerade so gut wie ausgeredet, als Viktor mich bei der Hüfte packte und mir fest in die Augen sah. Er beugte sich vor. Und dann zerrten wir an Kleidern und Haut und Haar, und ich gewann die Oberhand, und wir rangen miteinander, als kämpften wir mit unserer eigenen Sterblichkeit: Es war Alles-oder-nichts-Sex, es war Todestrakt-Sex. Wir klammerten uns aneinander fest – fremd, weil wir einander so noch nie begegnet waren, und vertraut, weil wir beide Menschen waren und beide gerade noch am Leben. Er roch nach Basilikum. Wir schrien an der Schulter des anderen, und es war aus Angst, glaube ich, ebenso wie vor Lust. Es war, als schrien wir in den Weltuntergang.
Danach berührte er mich an der Schulter. »Noch
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