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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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und betrachtete uns. Sein Blick wirkte betroffen und unentschlossen, als hätte er sein Leben lang auf diesen Moment gewartet, und jetzt, da er gekommen war, wüsste er nichts damit anzufangen. Lange saß er nur da, sah uns an und spitzte dieLippen. »Ihr könnt von Glück sagen«, sagte er dann, »dass meine Tochter in Buinaksk gestorben ist.«
    Ich lehnte mich zurück. »Wirklich?«
    »Wirklich.«
    »Das tut mir leid.«
    Er sah zu Boden. Ich schielte zu Viktor hinüber. Ihm war anzusehen, wie gern er die Kamera wieder anschalten wollte, aber er ließ es bleiben. »Sie haben zwei Tage zu früh davon berichtet«, sagte Simonow. »Gennadi Selesnjow hat im Parlament verkündet, dass es in Buinaksk eine Explosion gegeben hatte, und ich hatte solche Angst um sie. Aber dann hat sie angerufen und gesagt ›Alles in Ordnung, Papa. Es war in Moskau. Es war ein Irrtum.‹ Zwei Tage später lebte sie nicht mehr. Sie müssen ihre Termine durcheinandergebracht haben.« Er biss sich auf die Fingerknöchel. Ich versuchte es mir vorzustellen. Es war schwer vorstellbar, was so ein Ereignis einem Menschen nahm.
    Ich beugte mich vor. »Können Sie mit uns reden?«, fragte ich.
    Simonow starrte vor sich hin. »Ich habe meine Tochter geliebt.«
    »Natürlich«, sagte Viktor.
    Simonow schüttelte den Kopf. »Ich habe sie geliebt«, sagte er noch einmal. »Aber ich habe auch andere Töchter. Ich habe eine Frau. Und ich genieße mein Leben, auch wenn das vielleicht pietätlos klingt. Ich kann nicht mit euch reden. Tut mir leid.«
    Viktor sah mich hilfesuchend an. »Reden Sie mit uns«, sagte er. »Tun Sie es für Ihre Tochter.«
    »Ich wusste nicht, was sie mit dem Zeug vorhatten«, sagte Simonow kläglich. »Ich dachte, es hätte mit dem Aufstand in Dagestan zu tun. Mit irgendwas im Ausland. Ich schwöre.«
    »Wir glauben Ihnen«, sagte Viktor. »Wir glauben Ihnen.« Er lehnte sich vor. »Wie hieß Ihre Tochter?« Das war ein bisschen kaltschnäuzig, fand ich – aber auch ziemlich klug.
    Simonow sah zu Boden. »Walentina«, sagte er schließlich.
    »Das ist ein schöner Name«, sagte ich. Viktor sah mich an, wie um zu sagen, dass ich zu weit ging. Ein langes Schweigen folgte.
    »Ich kann nicht mit euch reden«, sagte Simonow. »Aber ich kann euch nicht daran hindern, da einzubrechen.«
    Viktor zog eine Augenbraue hoch und sah mich an.
    »Ich kann euch nicht daran hindern«, sagte Simonow wieder. »Aber wenn ihr es tut, müsst ihr auch wirklich die Scheiben einschlagen.«
    Wir taten es nachts, als Simonow wie versprochen die Wachmänner betrunken gemacht hatte. Wir konnten die Zecher hören, wie sie in einer Ecke des Geländes muntere Soldatenlieder schmetterten und beherzt ihre Flaschen auf die Tische knallten. Neben dem Verwaltungsgebäude standen halb im Matsch versunkene Geländewagen aufgereiht. Unter großen blauen Abdeckplanen staken verbogene Ausrüstungsteile hervor. Wir schlugen wirklich das Fenster ein, und dann kletterten wir hindurch – erst ich und dann Viktor. Ich blutete ein wenig oberhalb des Bauchnabels. Das Büro war klein und aufgeräumt, mit niedrigen Aktenschränken, die dunkel an den Wänden kauerten. Wir machten kein Licht, aber das war auch nicht nötig. Simonow hatte es uns leichtgemacht. Er hatte auf dem Schreibtisch Dokumente ausgebreitet, auf denen sachlich die Bestellung des FSB über eine Tonne des Sprengstoffs RDX verzeichnet war. Unterzeichnet war das Formular von Simonow selbst und datiert auf den 30. August 1999.
    Wir schnappten uns das Dokument. Ein paar andere Papiere fegten wir vom Tisch, warfen einen Stuhl um und schmissen Simonows Mantel auf den Boden. Wir hinterließen Unordnung, richteten aber nicht viel Schaden an. Dann schoben wir uns wieder durch das Fenster – erst ich, dann Viktor. Ich spürte, wie einer der Splitter auf meinem Rücken einen Striemen hinterließ. Das Trinkgelage im Freizeitraum schien immer ausschweifender zu werden. Zitternd und triumphierend erreichten wir das Auto und fuhren ohne Licht langsam, langsam vom Gelände.
    Selbst dann, selbst mitten in der Nacht wollte ich unbedingt wissen, wie es ausgehen würde. Selbst dann, als ich besser die Hackenin den Boden gestemmt hätte, um endlich innezuhalten, um jeden einzelnen Moment als unschätzbar wertvolle Verkörperung des geliebten Lebens auszukosten. Die Neugier hört nicht auf, auch wenn die Antwort bereits näher rückt – selbst wenn diese Antwort die Vernichtung der Frage durch die Vernichtung der Fragenden ist. Also

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