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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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dachte daran, dass es auch für mich Dinge gab, die ich wissen musste, und dass das noch lange nicht hieß, dass ich sie auch erfahren würde.
    »Wer bist du? Ich meine, wer bist du wirklich?« Ich sah ihn an. Vieleicht hatte er mich das schon immer fragen wollen. Vielleicht hatte er gedacht, es könnte Alexander verärgern oder Boris gegen ihn aufbringen, wenn er es tat. Oder vielleicht ist es einfach eine von diesen Fragen, die man immer erst dann stellt, wenn es für eine richtige Antwort zu spät ist.
    »Wie meinst du das überhaupt?«
    »Ich meine –« Er seufzte und schloss die Augen. Ich konnte sehen, wie er sich abmühte, eine diplomatische Formulierung zu finden. »Ich meine, warum bist du hergekommen? Was ist das hier, außer einer Flucht? Weglaufen kann jeder. Weglaufen kann jeder, und zwar egal wovor. Man muss nicht im Sterben liegen, um so was wie das hier tun zu wollen. Ich meine – warum hier? Und warum ausgerechnet das hier?«
    Ehe ich mich versah, erzählte ich es ihm – erzählte ihm Dinge, die ich noch nie irgendjemandem erzählt hatte, Dinge, von denen ich selbst nicht gewusst hatte, dass ich sie wusste, bis ich sie erzählte, und dann wurden sie im Nachhinein unbezweifelbar wahr. Ich erzählte von der letzten Schachpartie mit meinem Vater, wie sie zugleich eine Segnung und ein Moment der Fassungslosigkeit gewesen war: Sie hatte den Beginn meines Erwachsenseins markiert und den Abschied meines Vaters in die Bedeutungslosigkeit angekündigt. Nachdem mein Vater aus unserem Leben verschwunden war, hatte ich begonnen, zurückzublicken und nach Hinweisen darauf zu suchen, wer er gewesen war, was ihm etwas bedeutet hatte, wie er der Welt einen Sinn abgewann und wie er sich seinem nahenden Ende stellte. Die Masse der Informationen auszufiltern,die er hinterließ, war so, als würde man in einem Flussbett wühlen und zwischen den Kieseln nach Fossilien suchen. Aber irgendwann hatte ich ein Bruchstück namens Alexander aus dem Morast gezogen, hatte seinen matten Glanz begutachtet und beschlossen, das hier – genau das – sei ein entscheidender Hinweis oder ein fehlendes Bindeglied oder ein Holzspan, den mir ein göttlicher Scherzbold untergejubelt hatte, um mein Schicksal aufzumischen.
    Und dann erzählte ich von dem unerträglichen Druck, den es bedeutete, vor den Augen meiner Bekannten würdevoll sterben zu wollen. Dann war da die kindische Vorstellung, jenes Ding, das mich hetzte, könnte sich irgendwie abschütteln lassen – die nur zu drei Vierteln ironisch gemeinte Hoffnung, Chorea Huntington werde kein Visum bekommen. Noch kindlicher und beschämender war die flüchtige Frage, ob mein Vater überhaupt gestorben war. Ich hatte den ganzen Verfallsprozess vom Über-Ich zum Zellhaufen miterlebt, aber ich hatte schon als Kind die Klugheit besessen, den Dingen auf den Grund zu gehen, statt ihrem äußeren Anschein zu vertrauen. Wie konnte denn der Mann, den ich vor mir sah – der Mann, der mit den Armen ruderte und schrie, der Gegenstände quer durchs Zimmer warf und auf den Konzertflügel schiss –, wie konnte das derselbe sein, der Chorarrangements für Werke von Bach geschaffen hatte, der einfache Gespräche in unvorstellbar vielen Sprachen führen konnte, der Geopolitik mitverfolgte wie andere ihre Lieblingssportart? Selbst als junges Mädchen hatte ich den Verdacht, das alles sei ein Täuschungsmanöver. Das zerfurchte Gesicht dieses Mannes war nicht das Gesicht meines Vaters; dies abgehackte Gefuchtel waren nicht seine Gesten. Wenn dieser Mann nicht mein Vater war, war mein Vater nicht hier. Und wenn mein Vater nicht hier war, war er anderswo – vielleicht hatte er alle überlistet, so wie er mich auf dem Schachbrett immer überlistete, damals, bis er es nicht mehr konnte.
    All das erzählte ich Viktor. Und dann sagte ich noch etwas viel Einfacheres, ebenso Wahres: Manchmal gibt es Dinge, die wir überuns selbst nicht wissen. Manchmal fehlt uns die Zeit, um sie zu entwirren, und wir müssen uns mit einem Schulterzucken zufriedengeben. Aber ich glaube, es gibt auch Dinge, die wir selbst dann nicht verstehen würden, wenn wir unendlich viel Zeit hätten, darüber nachzugrübeln. Dinge, die wir niemals wissen werden, noch nach vielen langen Lebzeiten nicht.
    Der Flug nach Perm dauerte nur vier Stunden, und ich schlief die meiste Zeit. Wir landeten, schlurften von Bord und mieteten verdrossen ein Auto, wie verkaterte Teenager, die ahnen, dass sie in einem Augenblick hochprozentiger Inspiration

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