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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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verkaufen, was ja auch naheliegend war. Die meisten Menschen wollen irgendetwas verkaufen, auch wenn sie manchmal selbst nicht wissen, was.
    »Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig«, sagte ich. »Aber mein Vater hatte Briefverkehr mit Alexander Besetow. Erinnern Sie sich an ihn?« Ich bemühte mich um einen sanften, bittenden Tonfall – eine Haltung, die mir nicht besonders liegt. Ich wartete. Eine weitere Eiszeit verging, und ich fürchtete schon, ich hätte sie beleidigt. Sie war vermutlich alt, vielleicht schon vergesslich, hatte wer weiß was für eine Beziehung zu Besetow gehabt, und jetzt rief jemand an und verlangte von ihr, in alten Erinnerungen zu wühlen. Ich begann, elegante Rückzugsmanöver aus diesem Gespräch zu entwerfen – irgendetwas mit vertauschten Telefonnummern oder verwechselten Namen. Doch dann hörte ich durch das rapide anschwellende Rauschen meines Unbehagens plötzlich wieder ihre Stimme. Sie klang kräftiger als vorher. Selbstsicherer.
    »Alexander Besetow«, sagte sie, und ich konnte hören, dass sie ein wenig aufzutauen begann. Ihre Stimme klang wie Eiswürfel im Glas, mit dem unmerklichen Glitzern eines Lachens im Hintergrund. »Ja, von dem weiß ich noch das eine oder andere. Der dumme Bengel.«
    Ich hatte mir den berühmten Alexander Besetow nie als Bengel vorgestellt und hatte Mühe, mir eine Frau auszumalen, die ihn so sah. Sie musste alt sein, älter jedenfalls, als ich es je werden würde.
    »Haben Sie für ihn gearbeitet?«, fragte ich.
    »Nicht direkt.«
    »Aber gekannt haben Sie ihn?«
    Wieder folgte ein Schweigen. Es klang weniger leer – wie mit stillen Erinnerungen aufgeladen, die leise in der Leitung knisterten.
    »Ja.«
    Ich legte auf.
    Wenn man sich aufs Sterben vorbereitet, blickt man auf sein Leben zurück und versucht die offenen Fragen zu klären. Man deutet sinnhafte Zusammenhänge in die chaotischen Abläufe hinein, wertet Zufälle als Omen. Man durchkämmt seine Vergangenheit nach den entscheidenden Weichen und fragt sich, ob man sie richtig gestellt hat. Es ist eine endlose Suche nach brüchigen Verbindungen, eine Jagd nach erkennbaren Mustern, von denen man nicht einmal weiß, ob es sie gibt. Wie ein Kind am Badestrand wühlt man panisch im Untergrund, während die Flut steigt und die Sonne sinkt, nach etwas, von dem man nicht mehr weiß, wo man es vergraben hat.
    Als ich so mein Leben durchforstete, fand ich zu allererst einen erschreckenden Mangel an offenen Fragen. Besetow schien mir so etwas wie eine offene Frage zu sein.
    Also stellte ich mir Russland vor: ein kaltes, gewaltiges Land, kriminell und korrupt und von einer unmöglichen Sprache beherrscht, gefährlich für Ausländer und allein reisende Frauen. Dann versuchte ich mir vorzustellen, wie ich die wenigen verbleibenden Wissenslücken füllen würde.
    Ich kontrollierte den Stand meiner Ersparnisse: trotz eines bescheidenen Gehalts und wegen eines viel zu vernünftigen Lebensstils ziemlich hoch. Ich kontrollierte mein Alter: genau ein Jahr und vier Monate vor dem durchschnittlichen Auftreten der Symptome. Ich kontrollierte Elisabeta Nasarownas Namen und Adresse.
    Logistisch war alles ganz einfach, beinahe zu einfach. Ich hatte nicht vor unterzutauchen; ich wollte nur reinen Tisch machen. Doch alles in allem dauerte es nicht einmal eine Woche, die gesammelten Verpflichtungen und Verbindungen meines kurzen Lebens abzuwickeln, und ich ertappte mich bei dem Wunsch, etwas mehr Chaos zu hinterlassen. Unwillkürlich hoffte ich auf irgendeine Altlast – einen rachsüchtigen verstoßenen Geliebten, ein anhängigesGerichtsverfahren, Versäumnisse bei der Arbeit –, die meine Aufmerksamkeit fordern würde, die mich aufhalten und mich in mein Leben in Boston zurückholen würde. Doch die gab es nicht. Ich hatte ein relativ einfaches, geordnetes Leben geführt, ein Leben mit Blick auf den Notausgang. Und jetzt ging ich und hinterließ alles so wohlgeordnet wie eine Reisende, die im Hotel ihre Koffer nicht auspackt, weil sie weiß, dass sie nicht lange bleiben wird.
    Ich löste meine Geld- und Sparanlagen auf. Ich schrieb die letzten Bewertungen für meine letzten Kursteilnehmer und reichte meine Kündigung ein. Ich überwies meinem Vermieter drei Monatsraten. Ich verbrachte ein bisschen Zeit im Internet. Ich verbrachte Zeit damit, mir meine bisherigen Eskapaden ins Gedächtnis zu rufen (es gab keine). Und ich verbrachte Zeit damit, mich zu verabschieden – was, wie alles andere, viel einfacher ist, wenn

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