Das Leben ist groß
man einen Vorsprung hat.
Ich erzählte allen – der Mutter, dem Arzt, den Freunden und Kollegen –, dass ich verreisen wollte. Ganz spontan, sagte ich, ganz luxuriös und egoistisch und vor allem sehr, sehr lange. Ich sagte, ich wollte etwas von der Welt sehen, solange ich noch konnte, und ein kleines Abenteuer nur für mich erleben, solange ich allein zurechtkam. Meine Kollegen reagierten verständnisvoll. Meine Mutter war erleichtert, glaube ich. Menschen, die nie über meine Diagnose gesprochen hatten, die sich nie nach meinem Vater erkundigt hatten, waren begeistert, endlich einen konkreten, verständlichen und positiven Anlass zu haben, indirekt darüber zu reden. Sie redeten davon, wie bedeutend diese Entscheidung sei und wie gut es mir tun würde, unterwegs zu sein. Falls sie insgeheim fanden, dass ich mir für meine letzte Reise ein seltsames Ziel ausgewählt hatte, waren sie so höflich, es nicht zu erwähnen.
Jonathan erzählte ich mehr oder minder das Gleiche, auch wenn er mich gut genug kannte, um zu ahnen, dass ich log und wahrscheinlich nicht wiederkommen würde. Er war schockiert, fürchte ich, und traurig und wütend und all das. Er dachte, ich wollte nurbluffen; es sei nur eine Überreaktion. Er wollte, dass ich mich in Therapie begab.
Es war kein Bluff. Seelisch war ich vielleicht nicht in der allerstabilsten Verfassung meines Lebens. Aber ich dachte – und irgendwann, in einer dieser scheußlichen letzten Nächte, an die ich mich so wenig wie nur möglich erinnern will, sagte ich es auch: Ich bin hier nicht diejenige mit den Wahnvorstellungen. Ich bin nicht die mit dem verzerrten Blick auf die Realität.
Was hätte er letztlich auch tun sollen? Ich bin eine erwachsene Frau und eine Bürgerin der Vereinigten Staaten, finanziell unabhängig und in der Lage, mir einen Visa-Eilantrag zu leisten. Er konnte mich nicht aufhalten, so wie letztlich überhaupt niemand irgendwen vom Verlassen abhalten kann.
Ein paar Tage vor meiner Abreise wollte ich noch ein letztes Mal gegen Lars Schach spielen. Es war Mai, die Luft war seidig weich. Kein sehr passender Tag für eine Partie, doch ich brauchte jemanden zum Reden. Leider kam es nicht dazu. Lars hob die Augenbrauen, als er mich sah, und schwieg. »Hallo, alter Mann«, sagte ich und setzte mich. »Wie geht’s?« Er zuckte mit den Schultern und wies mit großer Geste auf das Schachfeld.
»Was ist?« Ich kniff die Augen zusammen. »Stimmt etwas nicht?« Lars sah aus wie immer – spülwassergraues Haar, sonnenverbrannte Nase und die Gesamterscheinung eines Menschen, der regelmäßig unter Brücken schläft –, doch seine Augen strahlten bedeutsamer als sonst. Er reichte mir eine Karte.
Aus Protest gegen meine Festnahme durch FASCHISTISCHE POLIZEIKRÄFTE wegen Störung der öffentlichen Ordnung mittels Gesang habe ich ein Schweigegelübde abgelegt. Bitte unterstützen Sie mich in meinem Kampf gegen den Versuch dieser FASCHISTENSCHWEINE, alles LEBEN, die KUNST und die FREIHEIT in unserer Heimatstadt zu zerstören.»Du bist verhaftet worden? Weil du gesungen hast?« Lars’ Augen flackerten, und er legte den Finger auf das Wort »Festnahme« auf seiner Karte. »Festgenommen? Wegen Gesang?«
Lars nickte feierlich.
»Okay«, sagte ich. »Geschieht dir wahrscheinlich recht.«
Dann schwiegen wir und spielten das übliche Spiel. Ich war nicht mit dem Herzen dabei, also schonte er mich, wie ich vermute – ich hatte an dem Tag bessere Chancen auf einen Sieg als je zuvor. Doch ich besiegte ihn nicht. Und jetzt wird es wohl nicht mehr dazu kommen.
»Wenn du nichts sagst, bist du nicht gerade unterhaltsam«, sagte ich irgendwann. Lars streckte mir die Zunge heraus, wahrscheinlich, um zu zeigen, dass er zumindest ein bisschen unterhaltsam war.
»Wirklich schade, dass du nicht reden willst«, sagte ich. »Es gibt nämlich Neuigkeiten.«
Er wandte den Blick ab und kniff die Augen zusammen. Lars liebte es zu tratschen, und ich wusste, wie schwer es ihm fiel, abstinent zu bleiben, selbst wenn es seinen hehren politischen Idealen diente. Er griff nach einem Stift und drehte die Karte mit seiner Protestnote um. »Was?«, schrieb er.
Also begann ich zu reden. Ich verbreitete mich ohne Punkt und Komma, ungehemmt und vollkommen unzusammenhängend und noch viel selbstbezogener als sonst. Worauf ich hinauswollte war wohl, dass ich panische Angst hatte, doch das hätte ich nie geradeheraus zugegeben, weder vor Lars noch sonst irgendwem gegenüber. Aber Lars wusste es
Weitere Kostenlose Bücher