Das Leben ist groß
von Menschen, die ein Leben lang Zeit haben, einander zu lieben und zu enttäuschen. Dass er mich überhaupt fragte, war beinahe schon beleidigend – entweder wollte er mich bevormunden, oder er verschloss die Augen vor der Wirklichkeit. Es war, als hätte er mir einfach nicht zugehört. Ich war dreißig. Ich hatte höchstens noch ein oder zwei körperlich und geistig intakte Jahre zu leben. Ich hatte nicht vor, mit Jonathan zusammenzuziehen, bloß damit er zusehen konnte, wie alles, was er zufällig an mir gemocht hatte, verschwand. Ich bin nicht romantisch genug, um zu glauben, dass die Liebe so einen Frontalangriff überstehen kann. Jemanden in seiner Abwesenheit zu lieben ist das eine, aber jemanden zu lieben, der deformiert und reduziert und immer, immer da ist – das ist etwas ganz anderes. Ich hatte meinen Vater geliebt. Liebte ich auch den Menschen, zu dem er durch seine Krankheit geworden war? Ich weiß es nicht. Was war das für ein Mensch?
Ich würde Jonathan verlassen. Als ich das beschlossen hatte, kam es mir nur folgerichtig vor, mich auch von allem anderen zu verabschieden.
Am Abend des Tages, an dem Jonathan mich gefragt hatte, kehrte ich allein in meine leere Wohnung zurück. Ich holte den Brief hervor, den mein Vater an Alexander Besetow geschickt hatte, und die knappe Notiz von Elisabeta Nasarowna. Ich dachte noch einmal daran, wie mein Vater gestorben war, ohne die Antwort auf seine besten Fragen je bekommen zu haben. Und ich dachte an Alexander Besetow und konnte nicht umhin, ihn ein klein wenig zu hassen. So viel Energie und Intelligenz und vor allem so viel Zeit – die gesamte durchschnittliche Lebenserwartung –, und er hatte es nicht einmal fertiggebracht, meinem armen sterbenden Vater ein paar Fragen zu beantworten, so abstrakt und zudringlich sie auch sein mochten. Was hätte es ihn schon gekostet, wenn er so viel besaß? Es kam mir so kleinlich vor, die Antwort – die Nichtantwort – an seine Sekretärin zu delegieren.
Ich sah mir den Brief der Sekretärin noch einmal an. Er hattediesen leicht bedauernden, verlegenen Ton, als hätte sie gewusst, dass es so nicht richtig war. Elisabeta Nasarowna. Was für ein Name.
Ich setzte mich an den Computer. Ich tippte »Elisabeta Nasarowna« und »St. Petersburg« ein und hangelte mich von einem kyrillischen Wort zum nächsten. Es gab die Geburtsanzeige eines Kindes Jahrgang 1998. Dann den Verweis auf eine oppositionelle Schriftstellerin, die dem Großen Terror zum Opfer gefallen war. Dann kamen Fotos einer sehr jungen Frau auf einer Social-Network-Seite. Sie hatte eine perfekt gestylte Frisur und die langen, flaumigen Arme einer Magersüchtigen und hielt auf jedem der Bilder einen anderen grellbunt marmorierten Cocktail in der Hand. Dann fand ich eine Geschäftsfrau, die online kommunistische Andenken verkaufte. Ich fand unendlich viele Elisabetas, alte und neugeborene, angedeutete und ausgewiesene. Und dann begann ich, so peinlich es mir im Nachhinein auch ist, sie anzurufen.
Ich stellte mir Regeln auf: Nur Bewohnerinnen von Moskau oder St. Petersburg kamen in Frage (niemand, der je in Leningrad gelebt hatte, würde freiwillig aufs Land zurückgehen, dachte ich). Dann ließ ich alle weg, die zu alt oder zu jung waren, und alle, für die in den Siebzigern oder frühen Achtzigern ein Beruf angegeben war. Am häufigsten hörte ich am anderen Ende die Kein-Anschluss-Meldung, Freitöne und eine kaltherzige, unfassbar schnell sprechende Telefonistin, die mich wütend irgendeines mir unbegreiflichen Vergehens bezichtigte. Ich erreichte ein kleines Mädchen Elisabeta, eine Elisabeta, die mich nicht verstand, und den Witwer einer verstorbenen Elisabeta. Dann, irgendwann, erreichte ich eine Elisabeta mit einer leisen, seltsam zerbrechlichen Stimme, die sagte: »Da? Da?«
Das konnte sie auch nicht sein, dachte ich. Sie klang wie eine besonders technophobe Großmutter, die in das Telefon hineinsprach, als sei ihr Gesprächspartner im Hörer versteckt. Was zum Geier tat ich da überhaupt?
»Sdráwstwuite«, sagte ich langsam und deutlich. »Menja sowut Irina Ellison. Goworíte po anglíjski?« Ich hätte zwar auch den Rest auf Russisch sagen können, doch auf Englisch wäre es peinlich genug,dachte ich. Wenn es sich vermeiden ließ, musste ich es nicht noch schlimmer machen.
Das Schweigen in der Leitung war so lang und so eisig wie der Kalte Krieg.
»Ja«, sagte sie dann auf Englisch. »Was wollen Sie?« Sie glaubte offenbar, ich wollte ihr etwas
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