Das Leben ist groß
– seine privilegierte Position erreicht man nicht ohne eine gewisse Menschenkenntnis –, und je länger er mir zusah, wie ich in meinem Kaffee rührte, meinen Muffin liegen ließ und meine Spielfiguren umwarf, desto angewiderter sah er aus. Ich war gerade mitten in einem Monolog darüber, wie viel schonender es sei, mich leise aus Jonathans Leben zu schleichen, bevor er meinen Verfall mitansehen musste, als Lars es nicht mehr aushielt. Er hätte fast seinen Kaffee ausgespuckt und sein Schweigegelübde dazu.
»Oh, bitte«, sagte er. »Merkst du nicht, dass du es genießt, dichso zu fühlen? Du grübelst gern. Das macht, mit Verlaub, deinen bescheidenen Charme aus.«
»Du redest ja.«
»Du hast mich dazu getrieben.«
»Ich grüble nicht. Ich denke nach.«
»Was soll ich dir sagen?« Seine Augenbrauen wackelten bedenklich, und er opferte vor Verzweiflung seinen Turm. »Du hörst ja nie zu. Deshalb wirst du auch nicht besser im Schach.«
»Aber das werde ich doch«, sagte ich, beäugte den Turm und versuchte herauszufinden, in welchen ausgeklügelten Hinterhalt er mich locken sollte. »Oder?«
»Nein«, sagte Lars. »Wirst du nicht.«
»Oh.« Ich schlug den Turm und wartete – wartete, dass die Falle zuschnappte, die Welt über mir zusammenbrach, dass eine Bauernplage über mich kam. Doch nichts geschah. Lars rückte mit seinem Springer gegen meine Dame vor. Diesmal, dies eine Mal hatte ich einen kleinen Sieg errungen.
»Wenn du weglaufen willst, dann tu’s. Ich halte dich nicht auf.«
»Das sehe ich.«
»Aber vielleicht solltest du ein bisschen bei diesem Mann bleiben. Er ist sicher sehr langweilig, aber wahrscheinlich nicht langweiliger als du. Du könntest ein bisschen Sex haben. Das würde dir guttun. Sex, weißt du? Schon mal davon gehört?«
»Nicht, dass ich wüsste.«
»Es würde dir guttun. Dich zum Lachen bringen. Du bist immer so ernst.« Er machte ein ernstes Gesicht, mit aufgeblasenen Backen und stierem Blick.
»Du siehst aus wie Kim Jong Il.«
»Oder lass es bleiben. Auch gut. Wenn du lieber schmollen willst, bitte. Bekommt vielleicht deiner Spielstärke besser.«
»Das ist eine meiner höchsten Prioritäten.«
»Ja, dachte ich mir. Übrigens, Schach.«
Als ich mich schon aus dem Spiel und dem Gespräch zurückzuziehen begann, packte mich Lars plötzlich am Kragen und zogmich zu sich herunter, bis dicht vor sein ergrautes, vorwurfsvolles Gesicht. »Hör mal«, sagte er. »Wenn ich sowieso schon rede, weil du sowieso schon mein Gelübde gebrochen hast, kann ich dir auch noch etwas sagen. Weißt du, was dein Problem ist?«
»Ich denke, ja.«
»Du hast Angst, dich auf etwas einzulassen, das du nicht verlieren willst«, sagte er triumphierend, als hätte er mich gerade zum tausendsten Mal in Folge schachmatt gesetzt – was er vielleicht längst getan hatte.
»Quatsch«, sagte ich. »Es gibt eine Menge, das ich nicht verlieren will.«
»Nein«, sagte Lars. Er setzte sich auf seinem Betonblock zurecht und klang auf einmal feierlicher und ernster. Normalerweise tänzelte seine Stimme schwerelos zwischen Berichten und Lügengeschichten, Ratschlägen und Anekdoten hin und her – das Geplauder eines Trickkünstlers, der letztlich nur von dem ablenken möchte, was er wirklich tut. Doch jetzt senkte sie sich um eine Oktave; sogar sein Akzent schien nachzulassen. »Bis jetzt gibt es nur eins, was du auf keinen Fall verlieren willst, und das bist du selbst. Vielleicht gibt es noch andere Dinge, die du magst. Vielleicht gibt es Menschen, mit denen du dich gut amüsierst. Deinen alten Kumpel Lars, zum Beispiel. Aber das Einzige, das zu verlieren du wirklich nicht ertragen kannst, ist dein – wie heißt es gleich? Selbstbewusstsein?«
Ich rutschte unbehaglich auf meinem Sitz hin und her. »Ichbewusstsein vielleicht.«
»Ichbewusstsein. Du liebst nur dein eigenes Ichbewusstsein.«
»Es ist mir wichtig, klar.« Ich bemühte mich, vernünftig und nicht defensiv zu klingen. »Geht das nicht allen so?«
»Manchen mehr, anderen weniger, würde ich sagen.«
Ich sah einen Moment lang auf und registrierte das Kommen und Gehen der kunterbunten Menschen auf dem Harvard Square, die Umlaufbahnen der zahllosen Individuen mit ihren je eigenen Vorstellungen und Träumen und Plänen. Die Mädchen in Businesskleidung, die internationale Telefongespräche führten, während sie überden Platz marschierten, kamen mir allmählich herzzerreißend jung vor. Eine von ihnen war gerade stehen geblieben. In einer
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