Das Leben ist groß
Hand hielt sie einen Blumenstrauß und in der anderen ihr Telefon und sprach wütend auf jemanden ein, dem Klang nach auf Chinesisch.
»Dein Leben ist viel zu leise«, sagte Lars entschieden, und ich wandte mich ihm wieder zu. »Viel zu einsam.«
Ich blickte in meinen Kaffeebecher und stellte beunruhigt fest, dass ein schillernder Film auf der Oberfläche trieb.
»Also«, sagte ich und kämpfte gegen einen leichten Krampf in meiner Halsregion an. »Ich habe mir überlegt, nach Russland zu verreisen.«
»Nach Russland?« Lars lehnte sich zurück. »Dein heißgeliebter Pädophiler?« Er meinte Nabokov.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich sog die Wangen ein und richtete mich auf. »Ich will Alexander Besetow kennenlernen. Den Schachspieler.«
»Ah, so«, sagte Lars und musterte interessiert seine Fingernägel. »Willst du ihn zu einem kleinen Match herausfordern?«
»Mein Vater und er waren Briefpartner«, sagte ich von oben herab, in dem übertrieben beiläufigen Ton, mit dem man Dinge erwähnt, auf die man lächerlich stolz ist.
»Tatsächlich?«, sagte Lars. In seinen Augen tauchte ein vergnügtes Glitzern auf, das rührend gewirkt hätte, wäre es nicht so selbstzufrieden gewesen. Ich wartete auf Nachfragen, doch vergebens. Lars’ Ausflug in den politischen Widerstand hatte ihn stoische Geduld gelehrt.
»Sie hatten einen Briefwechsel, bevor mein Vater krank wurde.«
Lars’ graue Haarbüschel wurden inzwischen von der sinkenden Sonne von hinten angestrahlt, und es sah aus, als trüge er entweder Hörner oder einen Heiligenschein. »Weißt du«, sagte er, »in den Achtzigern bin ich einmal quer durch die Sowjetunion gefahren. Ein grauenhaftes Land. Aber die Frauen! Die Frauen waren erstklassig.« Ich war gespannt auf die Fortsetzung, doch sie kam nicht. Mit einer einzigen Handbewegung fegte er die Reise mitsämtlichen Gefahren und Bestechungsgeldern, die dazugehört haben mochten oder auch nicht, auf die riesige Halde von Dingen, von denen ich ohnehin nichts verstand.
»Schön«, sagte ich. »Ich würde mich nie mit Ländern abgeben, in denen die Frauen zweitklassig sind.« Lars’ Gesicht hatte einen sentimentalen Ausdruck angenommen, einen abwesenden Blick und ein wehmütiges Lächeln, das an zwiespältige Reue und Staatsgeheimnisse denken ließ. Seine Aufmerksamkeit war längst anderswo. Er sank in das Reich der Fiktionen zurück – gleich würden sämtliche Wahrheiten, die gesagt worden waren, von Wellen des Sarkasmus, der Spekulation und Übertreibung fortgespült werden. »Genug jetzt«, sagte ich. »Hör sofort auf damit.« Ich stand auf, und diesmal meinte ich es auch so. Sein Blick öffnete sich kurz, wie der eines Pokerspielers, der begreift, dass sein Gegner Ernst macht. »Irina?«, sagte er.
»Ja?«
»So ein Abenteuer wird gut für dich sein.«
»Das glaube ich auch.«
»Du schreibst mir doch eine Postkarte?«
»Na klar.«
»Und stell dir vor«, sagte er, »wie viele Geschichten du mir erzählen kannst, wenn du zurück bist.« Er umarmte mich. Er roch nach Asche, nach Kaffee und Himmel und Alkoholgenuss am Vormittag. Dann klopfte er mir auf den Rücken, und ich lief die Massachusetts Avenue hinunter. Er blieb auf seinem Betonklotz sitzen und sortierte die Figuren, und auch wenn ich es nicht genau wissen kann, stelle ich mir vor, dass er bis heute dort sitzt.
Ich rückte am Flughafen Schrittchen für Schrittchen durch die Warteschlange, versuchte die kyrillischen Schilder zu entziffern und las mir leise die Worte vor. Am Schalter reichte ich meine Papiere über den Tresen, wo sie widerstrebend und misstrauisch gestempelt wurden. Um mich herum sah ich Horden nach Weißkohl riechender alter Frauen, jüngere Frauen mit klackernden Krallenund strohig gebleichtem Haar, verschlagen blickende Männer, die sich vordrängelten. Niemand beschwerte sich über sie.
»Geschäfts- oder Urlaubsreise?«, fragte der Zollbeamte mit schiefgelegtem Kopf und einer ungewöhnlichen Mischung aus paranoidem Misstrauen und Langeweile im Blick.
Ich dachte nach. Der Gedanke an Urlaub wirkte absurd, wenn ich an dem Beamten vorbei in das Flughafengebäude sah, auf die zerschlissene Wandbespannung und die verkrüppelten Skelette ehemaliger Sitzmöbel. Es war widerlich kalt. An den Fenstern hockten einsame alte Frauen. Andere, in meinem Alter, warteten an den Kiosken und ließen mit einem schmerzhaften Schnalzgeräusch Kaugummiblasen platzen. Ein Hund in der Größe und Statur einer Hyäne drückte sich in einem
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