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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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die Liste der Abonnenten war kurz, aber bunt gemischt und voller Gestalten, mit denen er nicht gerechnet hätte. Nicht wenige Frauen waren darunter, ältere Menschen und der eine oder andere, der erst vor kurzem zu einer öffentlichen Selbstkritik gezwungen worden war. Zu allen hatte er eine genaue Beschreibung ihres Äußeren im Kopf. Wenn jemand anderes die Tür öffnete, erkundigte er sich in einem improvisierten gebrochenen Russisch umständlich nach dem Weg zur nächsten Metrostation, bis man die Tür wieder zuschlug. Es gab nie mehr als zwanzig Abnehmer. Manchmal kam jemand Neues hinzu, der im Saigon Iwans und Nikolais Vertrauen gewonnen hatte; manchmal wurde jemand paranoid oder befördert und batAlexander händeringend, nie, nie wiederzukommen. Und daran hielt er sich.
    An manchen Tagen drehte er seine Runde zu Fuß, an anderen mit der Metro, und oft kombinierte er beide Möglichkeiten: Er fuhr ein paar Stationen und ging dann wieder zwei Kilometer zu Fuß bis zu einer anderen Station. Das war Iwans Idee gewesen, und die allmorgendlichen Botengänge gaben Alexander allmählich das Gefühl, die Stadt zu bewohnen und zu verstehen – das Eintauchen in die edlen Innereien einer reich verzierten, pompösen und atomkriegstauglichen Metrostation, dann der Aufstieg in die weißliche Morgendämmerung, wo Leningrad erst als Ahnung, dann als Schemen, dann als Silhouette aus dem Nebel tauchte, dann wieder der Abstieg in die Metro, wo Menschenmassen sich eilig vorwärtsdrängten und das Licht aus Kronleuchtern von der Decke tröpfelte wie auf der Titanic.
    Bei einer seiner morgendlichen Metrofahrten im angeblichen Frühjahr sah Alexander Elisabeta bei der Arbeit. Er entdeckte sie auf einem Bahnsteig, um fünf Uhr morgens, wie sie schlaff am Arm eines Mannes mit der Statur eines Dinosauriers hing. Ihre Nachtschicht musste fast zu Ende sein, dachte Alexander. Ihre schwarze Kleidung, die sie wie ein eigenständiges Wesen mit seinen eigenen provokanten Ideen umspielte, wirkte ein wenig derangiert; ihr beinahe schönes Gesicht sah älter aus als sonst. Dunkle Ringe hatten sich unter ihren Augen gebildet, und ihr Make-up wirkte irgendwie missraten. Die Stirn des Mannes ragte wie eine Schublade nach vorn. Er beugte sich zu Elisabeta hinab und sagte etwas zu ihr, und sie lachte, wie sie es getan hatte, als sie mit der Verwalterin sprach.
    Alexander sollte sich später einreden, er wäre fast zu ihr hingegangen. Er dachte zumindest darüber nach. Ernsthaft sogar. Er stellte sich vor, sie mitzunehmen, sie in seine Angelegenheiten einzuweihen, dem Mann das Geld, das er für sie ausgegeben hatte, mit Zinsen zurückzuzahlen und lachend durch die Straßen davonzulaufen, während der Mann ärgerlich und verwundert seine prähistorische Körpermasse von einer Seite auf die andere wälzte.
    Doch er hatte zu tun – er musste arbeiten, und Elisabeta, das wusste er, ebenso. Und die Arbeit ging natürlich vor. Also wandte er sich ab und stieg weiter die breite, endlose Treppe hinauf in die Stadt und den neuen Tag.

KAPITEL 6
    Irina
    Moskau, 2006
    Meine Maschine landete erst abends in Moskau-Scheremetjewo, aber beim Zoll gab es lange Schlangen. Als wir im Sinkflug durch die Landschaft kreuzten, betrachtete ich die matten Lichter, die Moskau in das All hinausschickte, und staunte, wie klein sie im Vergleich zu dem Rest erschienen, zu der Weite und der Dunkelheit. Ich hatte eine lange Reise hinter mir – sechs Stunden über dem wogenden Atlantik, drei Stunden mit überteuerten, undefinierbaren englischen Sandwiches in Heathrow und eine holprige letzte Etappe nach Russland. Die Stewardessen hatten sich gegen mich verschworen. Ich hatte mein Russischbuch Stufe drei hervorgekramt und versucht, eine Cola zu bestellen. Sie hatten die Augen verdreht, mich von oben bis unten gemustert und auf Englisch gefragt, ob ich lieber eine Diet Coke wollte. Ich hatte mein Gesicht an die kalte Fensterscheibe gepresst und mich gefragt: Wie? Warum? Und wofür?
    Es hatte damit begonnen, dass Jonathan mich bat, mit ihm zusammenzuziehen. Wir waren schließlich verliebt, und das Zusammenziehen ist in unserer Kultur nun einmal Teil des dazugehörigen Krankheitsverlaufs. Ich hatte erst ja gesagt, dann vielleicht, dann sagte ich, dass ich für immer fortgehen würde.
    Ich wusste, dass ich unmöglich bei ihm einziehen konnte. Ich wusste, es war alles nur gespielt. Das Gefühl mag ja echt gewesensein, aber alles andere waren hohle Gesten, bloße Imitationen des Verhaltens

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