Das Leben ist groß
als sei das ganze Unternehmen die letzte Marotte einer Mittelschichtsamerikanerin – war es nicht dasselbe, was reichere Leute mit normaleren Interessen auch immer taten? Sie nahmen Privatunterricht bei Sterneköchen, um Soufflés backen zu lernen. Sie erforschten ausgestorbene Sprachen. Sie waren es leid, die üblichen Fähigkeiten immer weiter zu perfektionieren, und suchten sich exotischere Hobbys – Windsurfen, Kräuterkunde, Ikebana. Ich konnte so tun, als sei es bei mir dasselbe, als sei das Ganze ein eitler, launenhafter Versuch, mein Ego zu befriedigen.
Doch eins war sicher: Besetow war derjenige, an den sich mein Vater gewandt hatte, als sein Stundenglas leerlief, als der Sand herausschosswie bei einer arteriellen Blutung. Vielleicht hatte mein Vater etwas gewusst, das ich noch nicht wusste. Vielleicht würde ich dieses Wissen noch brauchen. Ich war nicht sicher, ob die Suche danach der beste Weg war, meine letzten zwölf bis vierundzwanzig Monate zuzubringen. Aber es würde mir genügen müssen.
Ich zog den Zettel mit Elisabetas Nummer hervor und fuhr mit dem Finger über ihren Namen. Ich rief sie an, stellte mich noch einmal vor und erinnerte sie daran, dass ich auf der Suche nach Besetow war.
»Oh, ja«, sagte sie. »Ich erinnere mich.«
»Tut mir leid, dass neulich die Verbindung unterbrochen wurde.«
»Ich habe mich seitdem nicht mehr vom Telefon wegbewegt.«
»Muss wohl ein Problem mit der Überseeleitung gewesen sein.«
Sie schwieg so lange, dass ihr Schweigen skeptisch klang. »Sind Sie Journalistin?«, fragte sie dann.
»Nein«, sagte ich und fragte mich, ob ich besser doch eine gewesen wäre.
»Mit denen redet er. Er liebt es, mit westlichen Journalisten zu reden. Aber ich nicht. Ich finde, das ist etwas für junge Männer.«
»Ich bin keine Journalistin«, sagte ich schon ein wenig überzeugter.
»Niemand ist heutzutage Journalist«, sagte sie etwas mysteriös. »Was wollen Sie dann von ihm? Sind Sie Schachliebhaberin?« Sie klang jetzt rein geschäftlich, kurz angebunden, und über das Stakkato ihres russischen Akzents legte sich ein leicht britischer Klang.
»Ja. Na ja. Kein ganz großer Fan. Eher gelegentlich.«
»Sind Sie politisch aktiv?« Ich hörte das leise Klicken und Zischen eines Feuerzeugs und einen pfeifenden Atemzug.
»Auch eher gelegentlich.«
»Niemand ist heutzutage politisch aktiv.«
Eine Weile war ihr leises Paffen zu hören. Dann hustete sie fürchterlich. Es klang tuberkulös und reißend, als wären sämtlicheWeichteile in ihrer Brust im Begriff, sich aufzulösen. Als sie fertig war, sagte sie: »Schauen Sie«, was in meinen Ohren merkwürdig amerikanisch klang. »Sie könnten ja versuchen, mit ihm persönlich zu reden. Aber dafür müssten Sie akkreditiert sein. Sie müssten irgendwo hingehören. Sie können nicht einfach so aus dem Nichts auftauchen.«
Ich dachte nach. »Wie wäre es mit einer Universität?«
»Vielleicht. Eine Universität könnte vielleicht passen.« Sie klang zurückhaltend, fast ein wenig spöttisch. »Wieso? Kommen Sie von einer Universität?«
»Ja«, sagte ich leichthin und nannte ihr den Namen meines Instituts. Meines ehemaligen Instituts. Was konnten sie schon tun – mich rauswerfen? Mich kaltstellen lassen? »Ich habe hier einen Brief von Ihnen. Mein Vater hat Alexander Besetow geschrieben, und Sie haben ihm geantwortet.«
»Daran erinnere ich mich gar nicht.«
»Könnte ich Sie vielleicht besuchen kommen? Dann bringe ich ihn mit.«
»Ich weiß nicht so recht.« Ihre Stimme wurde wieder schwächer, fragiler, wie zu dünn geblasenes Glas. »Warum wollen Sie ausgerechnet jetzt hier recherchieren, wenn Sie unpolitisch sind?«
Lügen machen es irgendwie leichter, eine harte Wahrheit auszusprechen. Es ist, als würde sich die Wahrheit unauffällig unter die Lügen mischen, und man vergisst, was wahr ist, was man gern für wahr halten würde und was man sich nur ausgedacht hat, damit die ganze Geschichte plausibler klingt. »Ich werde wahrscheinlich dieses Jahr sterben«, sagte ich.
»Ach wissen Sie«, sagte Elisabeta und hustete wieder. »Das ist aber keine besondere Auszeichnung.«
KAPITEL 7
Alexander
Leningrad, 1980
Und dann, eines Abends, aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz und nach all dieser Zeit, klopfte es an der Tür. Ein gläsernes Klimpern war zu hören und das luftige Beinahe-Geräusch einander berührender fließender Stoffe. Und als Alexander die Tür öffnete, stand da Elisabeta. Die magnetische Kraft seiner
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