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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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um. An den Wänden hingen zerschlissene Poster mit russischen Sehenswürdigkeiten darauf – die Eremitage, die Basilius-Kathedrale, der Baikalsee. Dazu gab es einen kryptischen Stadtplan, auf dem die U-Bahnen farblich aufgetragen waren wie Adern und Nervenbahnen in einem Anatomielehrbuch. Daneben hing das Werbeplakat einer Kunstausstellung aus dem Jahr 2002. Auf dem Glasschrank wurde eine fünfte gespiegelte Karte umgedreht. Der Junge trat gegen den Tresen.
    »Bljad«, sagte er. Dann wandte er sich mir zu. »Name?«
    »Irina Ellison«, sagte ich und zeigte ihm meinen Reisepass. Er nahm ihn entgegen und blätterte zu der Seite mit meinem veralteten, albernen Foto – noch aus Collegezeiten, vor den Gentests, mit einem aufgesetzten Lächeln, von dem ich damals noch nicht gewusst hatte, wie aufgesetzt es war. Ich hatte kurzes Haar, faltenfreie Mundwinkel, und meine Augen saßen genau richtig im Schädel, ohne die verdünnt teefarbenen Halbkreise um sie herum. Ichsah jung aus, stellte ich erschrocken fest. Erst wenn man bemerkt, wie jung man einmal war, wird einem bewusst, wie alt man ist.
    »Hm«, machte er und klappte den Reisepass zu. Er verstaute ihn als Pfand und zur Sicherheit hinter dem Tresen und reichte mir meine Schlüssel und einen Stadtplan, auf dem das Hostel eingekreist war. »Hier ist Pension Moskau«, sagte er und zeigte darauf. »Hier ist Metro. Hier ist Bar. Sie sind dreizehn.« Er zeigte den bedrohlich gekrümmten Flur hinunter. Rauch hing in der Luft und gilbte das hindurchsickernde Deckenlicht.
    Ich nahm Stadtplan und Schlüssel entgegen und folgte dem Flur, den Koffer wie einen deformierten Hund immer auf den Fersen. Ich hatte mir ein Einzelzimmer gegönnt, und es sah aus, wie ich es mir vorgestellt hatte – trist, dunkel und kalt, aber zweckmäßig. Ich stellte mein Gepäck ab und schloss mich ein. Ich war angekommen, so merkwürdig der Gedanke auch war. In meiner Handtasche steckte der Brief, den mein Vater an Besetow geschrieben hatte. Morgen würde ich anfangen, die Antworten auf seine Fragen zu suchen. Doch heute wollte ich mich nur noch zusammenrollen, mich zur Wand drehen und einschlafen, ohne mich umzuziehen. Ich legte mich hin und schloss die Augen.
    Als ich erwachte, waren vierzehn Stunden vergangen, doch es dauerte eine Weile, bis ich das begriff. Von meinen unruhigen, fiebrigen Träumen war nur ein Gefühl der Orientierungslosigkeit zurückgeblieben. Ich sah aus dem Fenster, um die Tageszeit zu erraten, doch es war ein seltsam zeitloser Ausblick. Feiner Nieselregen erfüllte die Luft wie statisches Rauschen. Der Himmel war weiß. Ein stockender Menschenstrom wälzte sich durch die Straßen, zu langsam für Berufsverkehr und für den Feierabend zu matt. Ich sah auf die Uhr und dachte nach. Es musste fast zwei Uhr nachmittags sein.
    Bei Tageslicht konnte ich mir mein Zimmer genauer ansehen. Auf dem Boden gab es mysteriöse Flecken und am Ende des Flurs eine apokalyptische Toilette. In der Dusche hing der Duft von Gardenienshampoo über dem Geruch von feuchtem Schmutz. Aufdem Weg zum Ausgang kam ich an dem Rockabilly-Pokerspieler vorüber, der mit dem Daumen auf seinem iPod herumnavigierte. Vor der Tür schlug mir ein fürchterlicher Gestank entgegen, von dem ich lieber nicht wissen wollte, woher er kam.
    Unten auf der Straße fand ich einen Kiosk, in dem es kleine Bärenanstecker und Mineralwasser gab. Auf Süßigkeiten ungewisser Herkunft waren in vierzehn winzigen Sprachen Zutaten aufgedruckt. Deprimierende Pornohefte standen neben Promimagazinen, der wenig einladenden Prawda und der internationalen Ausgabe der Time . Ich kaufte eine Tüte mit Schokolade überzogener Weingummibananen, setzte mich auf eine Parkbank und dachte zum ersten Mal seit der Landung ernsthaft darüber nach, was ich eigentlich vorhatte.
    Bei Licht betrachtet, kam mir die Idee, Besetow um Antwort auf einen Brief zu bitten, den er vermutlich nicht einmal gelesen hatte, anmaßend und mehr als merkwürdig vor. Bei dem Versuch, zu begreifen, was ich mir davon versprach, fühlte ich mich seltsam unfähig, wie einer, der im Traum ein mathematisches Rätsel lösen soll. Ja, mein Vater hatte nach Antworten gesucht, aber er hatte es fertiggebracht, ohne sie zu sterben. Das konnte ich doch sicherlich auch. Selbst wenn ich Besetow fand, wusste ich nicht, wie ich ihn ansprechen sollte. Vermutlich wurde er ständig von Schachfans belagert, und vielleicht konnte ich so tun, als ginge es auch mir um Schach. Ich konnte so tun,

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