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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Winkel herum und machte nicht den Eindruck, zum Personal zu gehören.
    »Geschäftsreise oder Urlaubsreise?«, fragte der Mann noch einmal, in einem Ton, als hätte ich die Wahl zwischen Erschießungskommando und Todesspritze.
    »Geschäftsreise.« Kaum hatte ich es gesagt, wusste ich, dass es stimmte.
    Draußen war es stickig und kalt zugleich. Es herrschte dieses irritierende Wetter, das einem unter die Kleider kriecht, einen zum Schwitzen bringt und dann den Schweiß gefrieren lässt. Eine Taxischlange schmiegte sich an die Bordsteinkante; die Fahrer hatten den lauernden Blick von Raubtierbändigern. Ich setzte mich auf eine der Rückbänke und zog den Namen meines Hostels und Elisabetas Adressdaten aus der Tasche. Meine Augen waren wie ausgetrocknet und saßen schief in ihren Höhlen. Ich bekam jetzt schon das Gefühl, auf einer ziemlich fragwürdigen Mission zu sein.
    »Maly Slatoustinski, bitte«, sagte ich. Wir bogen aus dem Flughafenparkplatz aus. Am dunklen Horizont begannen sich Wolken zusammenzuballen, und unter ihnen zeichneten sich allmählich die bleichen Umrisse von Gebäuden ab. Die Landschaft außerhalb der Stadt wirkte so gesichtslos und trist wie jedes semizivilisierte Einzugsgebiet; als ich das Fenster herunterkurbelte, mir denschmutzigen Regen ins Gesicht wehen ließ, die grellgelben Werbeplakate der Mobilfunkanbieter an mir vorüberziehen sah und die Abgase roch, dachte ich, ich hätte genauso gut in New Jersey sein können. Doch je mehr wir uns Moskau näherten, desto mehr verdichtete sich das Gefühl, in der Fremde zu sein. Zu beiden Seiten der Straße tauchten Verkaufsstände auf, die auf kyrillischen, handbeschriebenen Pappschildern Gebäck anpriesen. Zwergenhafte, verwaschene Bäume duckten sich vor dem Wind. Auch der Wind war fremdartig: Er hatte etwas Ungebändigtes, als hätte er ohne Unterbrechung beängstigend lange Strecken zurückgelegt. Ich musste an die Landkarte denken, die im Arbeitszimmer meines Vaters über dem Regal mit den Schachsets gehangen hatte: Eine schmalzgelbe UdSSR, die wie ein Jaguar im Baum sprungbereit den Rest der Welt belauerte. Selbst jetzt, nachdem der Lauf der Geschichte die Landmasse um ein Drittel verkleinert hatte, bekam ich das Gefühl, etwas von ihrer ungeheuren Weite spüren zu können, wenn ich aus dem Fenster sah.
    Nach und nach tauchte immer mehr von der Stadt aus der Dunkelheit auf. Der Verkehr war chaotisch, das Graffiti vielschichtig und ausdrucksstark. Die Männer strahlten mit ihren hellen, kantigen Gesichtern diese merkwürdig glatte Schönheit aus, die ich schon immer ein bisschen bedrohlich fand. In dem Aussehen der Frauen prallten die Jahrhunderte hart aufeinander. Die beinahe zahnlosen Alten sahen mit ihren koboldhaften Gesichtern und den straff gebundenen Kopftüchern wie Tolstoi-Figuren aus. Die Jungen waren so sorgfältig gestylt wie Frauen auf der Upper West Side, wobei es eine elegante Variante gab (gescheiteltes Haar, gedeckte Farben und sparsam hervorblitzender Schmuck) und eine prollige Variante (juwelenbesetztes Dekolleté, hochtoupierte Frisur, um den Hals die Bälger undefinierbarer sibirischer Wieselarten). Sie liefen durch die Straßen wie die konkurrierenden Sendboten verschiedener historischer Epochen. Vor einem Kaufhaus saß ein Mann auf einer Kiste, der einen Schimpansen an der Kette hielt. Ich ließ alles wie im Rausch an mir vorüberziehen und staunte überdas Wunder der Flugreise: Ich hatte nur mit den Fingern geschnippt, überstürzt Geld ausgegeben, und schon war ich hier – am anderen Ende der Welt, in einem unwirtlichen Land, in dem ich niemanden kannte, und mein einziger Wegweiser war eine zweifelhafte, hastig hingekritzelte Adresse. Niemand hatte mich aufgehalten. Kaum jemand hatte es überhaupt bemerkt.
    Das Taxi setzte mich vor meinem Hostel ab. Ich stieg aus und klingelte. Auf eine der Wände hatte jemand mit großen Druckbuchstaben SCHLAMPEN-IMPORT gesprayt. Ein monströses Röhren signalisierte, dass die Tür geöffnet war. Ich stieg die knarrenden Stiegen hoch und fand mich oben am Ende eines Flurs in einem gelblichen Lichtkegel wieder. Ein junger Mann mit einer Art windschiefer Rockabilly-Frisur saß hinter dem Tresen und klopfte mit einem Fuß auf den Boden. Der Computerbildschirm spiegelte sich in dem Glasschrank hinter ihm, und ich konnte eine grüne Fläche mit Zahlen und Spielkarten erkennen.
    »Moment«, sagte er auf Englisch, ohne aufzublicken.
    Ich wartete. Er klickte mit seiner Maus. Ich sah mich

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