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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Zeitung gemacht, bis ihreHände blau wurden, hatten ihr Leben und ihren Verstand riskiert, um sie auszuliefern. Man konnte es nicht genau wissen, doch Iwan vermutete, dass sie mehrere Hundert Leser hatten. Das war doch immerhin etwas, und Alexander begriff nicht, warum Iwan und Nikolai die Köpfe hängen ließen, ihre Servietten kneteten, ihren Wodka verschmähten und ängstlich vor sich hin starrten.
    »Eine Flugschrift?«, fragte Mischa amüsiert. »Was für eine Flugschrift?« Iwan und Nikolai schwiegen, also zuckte Alexander mit den Schultern und holte seine Tasche hervor. Unter Mischas stechendem Blick und einem Grinsen, das von Sekunde zu Sekunde sarkastischer wurde, hatte er einige Mühe mit dem Reißverschluss, doch schließlich brachte er es fertig, eine der letzten Ausgaben herauszuziehen. Er schob das Papierbündel über den Tisch und zog rasch die Hand zurück, falls Mischa danach griff.
    »Es sind hauptsächlich politische Kommentare drin«, sagte Alexander. »Und Philosophie. Artikel über Schach. Lyrik. Und manchmal Kunst.«
    Mischa begann mit einem eingefrorenen Fotolächeln durch das Magazin zu blättern. » Eine kleine Auswahl aussichtsloser Fälle? «, sagte er. Dann blätterte er wieder und stieß dabei Laute aus wie ein Schläfer, der einen Alptraum durchlebt. Er blätterte schneller und schneller, und Iwan und Nikolai sahen wie gelähmt dabei zu, und als Mischa endlich die letzte Seite erreichte, schleuderte er die Zeitschrift mit der ganzen überraschenden Kraft seiner knochigen Arme Alexander vor die Brust. »Wirklich verdammt klein. Habt ihr wenigstens eine Kippe für mich?«
    Nikolai reichte sie ihm. Als Mischa daran zog, verschwanden seine Wangen beinahe ganz. Alexander konnte Iwan und Nikolai denken hören und vor seinem inneren Auge die Kondensstreifen der vorwurfsvollen, anklagenden Blicke sehen, die sie über ihn hinweg austauschten.
    »Ihr macht das falsch«, stellte Mischa schließlich unumstößlich fest. »Das Ding ist der letzte Dreck. Bildet ihr euch wirklich ein, eure Schulaufsätze könnten irgendetwas ändern?«
    Alexander blickte auf seine Hände und studierte eingehend seine eingerissenen Nagelhäute und schwieligen Fingerkuppen. Iwan sagte leise: »Vielleicht.«
    Mischa beugte sich vor, und Alexander wich instinktiv zurück. Ein Geruch von als Medizin getarnten Giftstoffen ging von Mischa aus, und wenn er mit der Zigarette im Mundwinkel sprach, klang seine Stimme hoch und angestrengt wie eine falsch gespielte Geige.
    »Wisst ihr überhaupt, was sie mit mir gemacht haben?«, fragte Mischa. Iwan breitete zögernd seine Hände auf der Tischplatte aus und drehte eine Handfläche nach oben. Er schüttelte den Kopf. »Sie haben von den alten Kanülen den Rost abgekratzt und sie immer wieder benutzt. Haben mir Schwefel gespritzt. Elektroden an meine Schläfen gedrückt.«
    Alexander schauderte. Mischas Adern verliefen so dicht unter der Hautoberfläche, dass sein Gesicht aussah wie eine Karte unterirdischer Wasserläufe.
    »Manchmal haben sie mich in Laken eingewickelt, in eine Wanne mit Eiswasser gelegt und dann neben der Heizung abgeladen. Wenn die Laken trocken waren, hat es mir die Haut aufgerissen.« Mischa nahm den nächsten Zug und blies den Rauch ruhig und bedächtig in Richtung Iwan. Iwan hustete, drehte den Kopf weg und sagte nichts.
    »Ich musste mit einem Mann im selben Bett schlafen, der mich Stalin nannte. Zuerst dachte ich, er wollte mich beleidigen, bis mir klar wurde, dass er mich wirklich für Stalin hielt. Nachts hat er geschrien und mit seiner eigenen Scheiße Flüche an die Wände geschrieben. Und mit dem musste ich im selben Bett schlafen, jede Nacht. Wisst ihr, wie viele Nächte das waren? Was denkst du, Nikolai, wie viele Nächte waren es wohl? Wie lange war ich weg?«
    Nikolai wand sich. »Hundert? Hundert Nächte vielleicht?«
    »Oh, Nikolai«, sagte Mischa. »Das klingt ja fast, als wäre es dir egal. Und ich dachte, du hakst jeden Tag in deinem Kalender ab. Ich dachte, du schreibst mir jeden Tag.«
    Nikolai verzog das Gesicht.
    »Es waren einhundertsiebenundfünfzig Nächte, die ich mit diesem Tier verbringen musste. Ist es etwa meine Schuld, wenn ich genauso bekloppt geworden bin wie er?« Mischa ließ seine Hände auf den Tisch klatschen, wo sie auf dem dunklen Holz liegenblieben wie zwei sonnengebleichte Schildkrötenskelette. »Glaubt ihr, eure verfickten Schmierereien ändern irgendwas daran? Glaubt ihr, die Leser sagen: ›Oh, ein unkonventionelles

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