Das Leben ist groß
Gedicht, kommt Leute, schaffen wir den Kommunismus ab‹?«
»Bitte, Mischa, sei nicht so laut«, sagte Iwan. »Sogar hier. Ein bisschen mehr Diskretion.«
»Diskretion? Scheiß auf deine Diskretion! Weißt du, dass ich anfangs geknebelt schlafen musste, bis ich gelernt hatte, das Maul zu halten? Weißt du, dass sie Halbmenschen in Käfigen halten? Die meisten Leute da drin sind nämlich wirklich irre. Es sind nicht alles Intellektuelle und Dissidenten. Wir haben da nicht rumgesessen und uns in gelehrsamen Diskussionen ergangen. Und von diesen Viechern in den Käfigen haben viele geschrien. Das hat einem den Magen umgedreht, besonders am Anfang. Später wurde es weniger schlimm, aber das ist vielleicht auch Sinn der Sache. Am Anfang jedenfalls kamen mir diese Laute nicht mal menschlich vor. Es war, um es mal so zu sagen, nicht gerade angenehm, das zu hören.«
Nikolai biss sich auf die Lippe und umklammerte sein Glas so fest, dass seine Fingerkuppen violett anliefen. Iwan rührte geistesabwesend mit einem Finger in seinem Wodka herum und kaute hin und wieder an seinem alkoholisierten Fingernagel.
»Anfangs«, sagte Mischa, »habe ich noch versucht, denen klarzumachen, dass es alles ein Irrtum war. Ganz am Anfang vor allem, als sie mir die Knöpfe abgeschnitten haben. Ich dachte, wenn ich nur brav und vernünftig und verständig und ruhig blieb, dann würden sie einsehen, dass meine Einlieferung ein Fehler war.« Er stieß eine Rauchwolke aus, die einen Moment lang sein Gesicht verhüllte. Wenn man ihn nicht sah, konnte man fast glauben, er seiein düsterer Prophet, der gekommen war, um der Gegenwart Kunde von der Zukunft zu bringen. »Aber so war es nicht. Alles, was ich sagte – einfach alles –, wurde als Unsinn abgetan. Manche Schwestern waren nett und gaben mir Bonbons, und andere waren gemein und verpassten mir mit dem Handrücken Ohrfeigen, wenn niemand hinsah und ich angebunden war. Die meisten interessierten sich nicht weiter für mich und gaben mir Tabletten – riesige braune Pillen, die mir im Hals stecken blieben und von denen alles verschwamm und verschwand. Aber eins hatten alle Schwestern gemeinsam, nämlich, dass sie mich wie einen Vollidioten behandelten. Und weißt du, was das Komische war, Iwan?« Er beugte sich vor, und Alexander bemerkte wieder den gelblichen Geruch nach Erschöpfung, flachen Atemzügen und Betäubungsmitteln.
»Nein«, sagte Iwan, der sich offenbar damit abgefunden hatte, rhetorische Fragen zu beantworten. »Was war das Komische?«
»Das Komische war, Iwan, dass ich mich irgendwann zu fragen begann, ob ich nicht tatsächlich verrückt war. Man sollte doch denken, dass man seine eigene geistige Gesundheit ganz gut einschätzen kann, aber dem ist nicht so. Von allen wie ein Irrer behandelt zu werden ist ein interessantes psychologisches Experiment, das sollte jeder mal ausprobieren. Dass ich an meinem Verstand zweifelte, brachte mich erst wirklich um den Verstand. Ich begann mich zwanghaft auf meine Worte und auf meine Aussprache zu konzentrieren. Ich übte stundenlang ein, was ich den Schwestern sagen wollte, schrieb es auf und feilte daran herum. Ständig zerbrach ich mir den Kopf über die Satzstellung und die Grammatik. Irgendwie hatte ich die Theorie entwickelt, dass die Ursache meines Problems, meiner Unfähigkeit, mich mitzuteilen, eine Art mechanische Fehlfunktion war.«
Iwan schüttelte den Kopf und presste sich die schweißnassen Hände an die Schläfen. Nikolai starrte in die grüne Deckenleuchte über Mischas Kopf. Alexander starrte Mischa an und versuchte, sein verheertes Gesicht im Geiste zu etwas zusammenzusetzen, an das er sich eines Tages würde erinnern können.
»Wenn ich dann abends mit den Schwestern redete«, sagte Mischa, »sahen sie mich nur an. Oder sie tätschelten mir den Kopf, wie einem dämlichen Hund, über den sich die ganze Familie lustig macht. Ich fing an, auf meinen Händen herumzukauen. Irgendwann gab ich es auf. Ich hielt den Mund, blieb ruhig und verbrachte die meiste Zeit damit, aus dem Fenster zu sehen. Ich dachte mir geistige Beschäftigungen aus, um die Zeit herumzukriegen, zum Beispiel ersetzte ich im Kopf alle Grüntöne im Hof durch Rot und alle Brauntöne durch Blau, bis ich einen neuen Ausblick hatte. Oder ich zählte die Wörter, die im Lauf eines Tages an mich gerichtet wurden – viele waren es nicht, kann ich euch sagen. Wenn mein Mitbewohner mich als Stalin ansprach, antwortete ich ihm.«
Iwan legte Mischa die Hand auf
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