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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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wieder und wieder heraufbeschworenen Vorstellung eben dieses Augenblicks hatte sie endlich hergeführt.
    Er hatte gerade bei Kerzenlicht seine Kleider ausgebessert, und auf dem Bett türmten sich löchrige Hosen. Alexander hielt noch immer die Nadel in der Hand und trug sein schlechtestes Hemd. Elisabeta trug das übliche vielschichtige Schwarz, und ihr Haar stand nach allen Seiten und schimmerte farbig in der trüben Flurbeleuchtung. Sie wedelte mit einem Stück Papier.
    »Das warst du, habe ich gehört«, sagte sie und drückte ihm das Papier in die Hand.
    Es war die neueste Ausgabe der Flugschrift, und auf der aufgeschlagenen Seite prangte das verwischte Schwarzweißfoto eines unglücklich aussehenden Mannes mit Bart.
    »Das bin nicht ich«, sagte Alexander. »Das ist Scharanski.«
    Elisabeta lachte – ein kompliziertes, mehrdimensionales Lachen voller Freude über einen schlechten Scherz, Spott darüber, wie schlecht er war, und Reue, weil sie dennoch lachte. Es war ein Lachen, über das man eine Doktorarbeit hätte schreiben können.
    »Wo hast du das her?«, fragte Alexander. Elisabetas Daumen berührte seine Handfläche ein wenig länger als nötig, dachte er.
    »Nirgendwoher«, sagte sie. »Jemand hat es mir weitergegeben. Ist doch egal. Hör mal.« Ihr Haar löste sich aus der Spange; Alexander hatte nicht den Eindruck, dass sich die Spange auch nur die geringste Mühe gab, ihren Auftrag zu erfüllen – ebenso wenig wieihr Hemd übrigens, das viel zu dünn aussah, um seine Trägerin vor der Witterung zu schützen. Er hätte gern gefühlt, wie dünn es war, einfach den Stoff zwischen zwei Finger genommen und ganz leicht daran gezogen. Einfach nur so.
    »Hörst du zu?« Sie hatte sich mit der Schulter an den Türrahmen gelehnt. »Kann ich reinkommen?«
    »Äh …«, sagte Alexander, weil Kleiderstapel auf seinem Bett herumlagen, das nicht gemacht war, weil die Kerzen heruntergebrannt waren und seine Teetasse auf dem Tisch eine Pfütze gebildet hatte, doch da war sie auch schon drin, fuhr mit langen, schmalen Fingern die Wände entlang, schob die Kleidung beiseite und setzte sich ohne zu fragen auf sein Bett.
    »Das ist doch Wahnsinn«, sagte sie und zeigte auf die Zeitschrift.
    »Hast du sie gelesen?«
    »Ja. Sie ist sehr gut. Sehr klug gemacht. Ich frage mich bloß, ob du lebensmüde bist.«
    »Lebensmüde nicht«, sagte Alexander. »Bloß ein Angeber.«
    Und dann, plötzlich, berührten sich ihre Lippen, er wusste nicht, wie. Gerade hatte er noch geredet, und im nächsten Moment gab es keinen Zwischenraum mehr zwischen seinem Mund und ihrem. Er hob eine Hand an ihr Gesicht und erkundete mit der anderen die zarte Tastatur ihrer Rippen. Dann zog sie sich zurück, verschwand mit jedem Herzschlag ein wenig weiter, und Alexander dachte, dass er das hier nie vergessen würde: Eine Serie von Momentaufnahmen einer Frau, die mit niedergeschlagenen Augen lachte, und auf jedem Bild war sie ein wenig weiter entfernt.
    »Entschuldige«, sagte sie. »Das war nur, falls du demnächst vom KGB ermordet wirst.«
    »Oh«, sagte er, und dann schwieg er, weil ihm nichts Geistreiches einfiel. Sein Nacken wurde kalt, wo Elisabetas Hände ihn berührt hatten, und Alexanders Hirn war in einen Zustand der Lähmung verfallen, von dem er fürchtete, er könnte dauerhaft sein. »Wer hat dir gesagt, dass ich das war?«
    »Niemand. Ich habe den Schachartikel gelesen, und mir ist inletzter Zeit dein komischer Zeitplan aufgefallen, und da … Aber hör zu, Alexander, mach keine Dummheiten, ja? Die haben das gelesen. Die aus der Partei.«
    »Wieso haben die aus der Partei es gelesen?«
    Elisabeta schüttelte den Kopf. »Ich meine, die wissen einfach alles.«
    »Aber woher weißt du, dass sie es gelesen haben?«
    »Alexander.« Elisabeta steckte ihr Haar hoch, ließ ihre Halswirbel so laut krachen, dass Alexander zusammenfuhr, und stand auf. »Du weißt, dass ich eine Menge Leute kenne. Tja. Ich muss los.« Schon stand sie in der Tür, und ihre Augen sahen irgendwo an Alexander vorbei. »Entschuldige die Störung.« Doch noch blieb sie, wo sie war, biss sich auf die Unterlippe und sah seltsam traurig aus.
    »Du hast nicht gestört«, sagte Alexander, obwohl er selbst staunte, wie verstört er war. Behutsam und brüderlich legte er ihr eine Hand auf die Schulter. Sie griff danach und zog langsam, zärtlich, einen nach dem anderen seine Finger lang, bis die Gelenke knackten.
    Eine Weile war nichts weiter zu hören als ihr leises Atmen, das

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