Das Leben ist groß
beinahe krankhafter Druck, als bewegte er sich ständig auf der Grenze zum Zusammenbruch, zum hysterischen Lachanfall, zum Herzinfarkt.
Alexander hatte an alles das nie geglaubt, doch jetzt war es da.
Einige Wochen darauf kehrte Mischa ins Saigon zurück. Es war ein regnerischer Abend Anfang April – der Himmel hatte seine Schleusen geöffnet und spülte alle Absonderungen des Winters in die Kanalisation und weiter in die Ostsee –, und als Alexander,Iwan und Nikolai ihren üblichen Tisch ansteuerten, stellten sie überrascht fest, dass ein Mann sie dort erwartete. Es brauchte ein wenig Gewöhnung, diesen Mann anzusehen. Sein Gesicht sah aus, als hätte man es umgestülpt: rote Ekzeme leuchteten durch sein schütteres Haar und umrahmten es wie Koteletten; die Deckenbeleuchtung malte gelbe Pfützen in die Vertiefungen seines Schädels. In den Gruben unterhalb seiner Augen schien eine chronische innere Blutung durch die Haut zu schimmern. »Scheiße, Mischa«, sagte Nikolai. »Was ist denn mit dir passiert?«
Sie hatten über ihre nächste Ausgabe reden wollen, doch als sie Mischa dort sitzen sahen, verfielen Nikolai und Iwan in tiefes Schweigen.
Alexander hatte Mischa erst ein Mal gesehen und wusste daher nicht genau, wie der Mann normalerweise hätte aussehen sollen. Doch er war sicher, dass niemand normalerweise aussah wie er. Die Adern an seinen Schläfen waren beängstigend blau; seine Augen schienen einen Millimeter oder mehr hinter ihren Höhlen zu liegen. Er war so dürr, dass man an ihm Anatomieunterricht hätte nehmen können. Er grinste, was sein Gesicht nur noch mehr verunstaltete. »Wollt ihr euch nicht setzen, Jungs?«, fragte er.
»Natürlich«, sagte Nikolai, zog mit einem mörderischen Kratzen einen Stuhl hervor und setzte sich so hektisch, dass der Tisch wackelte. Alexander folgte seinem Beispiel. Iwan beugte sich zu Mischa hinüber, und zwischen seinen Augenbrauen bildeten sich tiefe Furchen.
Mischa saß lange nur da und schwieg. Er sah tief erschöpft aus, zu abgelebt, um sich je wieder zum Leben aufzuraffen. Iwan und Nikolai blieben stumm, und aus ihrem Schweigen war so etwas wie Verehrung herauszuhören – als sei Mischa ein entthronter König, der in sein Reich zurückkehrte, um es wieder in Besitz zu nehmen, oder ein betrogener Gott bei der Inspektion seiner aus den Fugen geratenen Welt.
»Tja«, sagte Mischa, nachdem ihn alle lange genug angestarrt hatten. »Und, was habt ihr so getrieben in meiner Abwesenheit?«
»Hör mal«, sagte Iwan. »Was können wir dir holen? Magst du essen? Oder einen Drink vielleicht?«
»Keinen Alkohol.« Mischa stieß ein bellendes, schmerzhaftes Husten aus. »Die Ärzte sagen, meine Organe sind wie Klopapier. Ein Wodka könnte mich auf der Stelle erledigen. Aber vielleicht soll er das ja?«
»Dann lass mich dir zumindest ein bisschen Brot holen«, sagte Nikolai. »Du siehst scheiße aus.«
»Ist das alles, was ihr gemacht habt? Trinken? Brot essen? Euch amüsieren?« Mischa drehte sich zu Alexander um, dem sofort ein elektrischer Schock durch das Rückenmark fuhr. So fühlte er sich jedes Mal, wenn er den deformierten Mann im Rollstuhl ansah oder unterwegs den weißen Wolgas begegnete. »Wer ist das?«, fragte Mischa. »Euer neuer Freund?« Er streckte seine welke Hand aus, und Alexander konnte nicht umhin, sie zu nehmen. Sie war rau und verschrumpelt, wie ein Organismus, der jahrtausendelang im Wüstensand gelegen hat.
»Ich bin Mischa«, sagte Mischa und starrte Alexander ins Gesicht. Kaum zu glauben, dass eine so schwache, eingeschrumpfte Gestalt durch bloßes Starren jeden niedermachen konnte.
»Wir kennen uns schon.« Alexander fühlte Mischas gekrümmte Hühnerkrallenfinger in seiner Hand.
»Ach ja? Bitte vielmals um Verzeihung. Mein Gedächtnis ist hinüber, fürchte ich. Das ist das Dumme daran, wenn man als geistig Gesunder in eine Irrenanstalt gesteckt wird. Man ist danach einfach nicht mehr derselbe.« Als Mischa zu Iwan herübersah, blitzte wie ein glänzender Fischbauch das Weiße in seinen Augen auf. Iwan, der sonst nicht auf den Mund gefallen war, brachte kein Wort heraus.
»Und?«, fragte Mischa fröhlich. »Ihr sagt ja gar nichts? Was gibt es Neues? Sagt nicht, ihr habt hier auf euren fetten Ärschen gesessen, während euer Kumpel im Irrenhaus schmoren musste.«
»Wir bringen eine Flugschrift raus«, sagte Alexander. Mischas Tonfall gab ihm das Gefühl, Iwan und Nikolai verteidigen zu müssen. Sie hatten monatelang Kopien ihrer
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