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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Knacken von Alexanders Gelenken und das Zischen der Kerzen, die herunterbrannten, bis sie leise, ohne viel Aufsehens, erloschen.
    »Sei vorsichtig, Alexander«, sagte Elisabeta und wandte sich zum Gehen. »Das war alles, was ich sagen wollte.«
    So ging es eine Zeitlang weiter. Wenn Alexander später nachrechnete, kam er alles in allem auf sechs Wochen, doch zu der Zeit kam es ihm wie anderthalb Tage oder wie ein ganzes Leben vor. Sie besuchte ihn abends. Zuerst hatte sie Vorwände – einen neuen Artikel, der ihr aufgefallen war, oder eine neue Warnung –, doch bald verzichtete sie darauf. Bald verzichtete sie darauf anzuklopfen.
    Vor Elisabeta hatte er nur mit einer anderen Frau geschlafen – der Tochter des einzigen Tankstellenbesitzers in Ocha, die stillhieltund nach Wolle roch –, und mit Elisabeta war es etwas ganz anderes: die Umkehr und Verwandlung einer bisher ziemlich freudlosen Angelegenheit. Mit Elisabeta erlebte er waghalsige Akrobatik und plötzliche glückliche Fügungen. Oft lagen sie lange Kopf an Kopf, bis er sich in ihrer Nähe verlor – bis das Zimmer sich drehte und die Zeit nicht mehr sie selbst zu sein schien. Sie bissen einander in die knochigen Schultern. Er leckte die fingerkuppengroße Mulde über ihrem Nabel. Sie fielen lachend aus dem Bett.
    Dann erzählten sie einander Dinge, die Alexander noch lange im Nachhinein erröten machten – nicht, weil sie obszön gewesen wären; im Gegenteil. Er schämte sich später, so viel von sich preisgegeben zu haben, so schnell und für so wenig. Der Sex war das eine – darin wurde er später sogar gut, und es sollte noch viele Frauen, viele spielerische Raufereien und leidgeprüfte Betten und ruinierte teure Frisuren geben. Aber die langen Gespräche, die Vertraulichkeiten – es schüttelte ihn, wenn er daran dachte. Aber damals wusste er es nicht besser; er war ganz erfüllt von dem beglückten Schlingern und der zähneklappernden Panik einer frühen, undiagnostizierten Liebe. Elisabeta erzählte von ihrer Kindheit in Chabarowsk – von ihrem betrunkenen, stinkenden, cholerischen Vater, ihrer betrunkenen, stummen, bedrängten Mutter – und dass ihr das Leben in Leningrad nicht gefiel und das Leben in Chabarowsk ihr noch viel weniger gefallen hatte. Und Alexander erzählte von den Diskussionen mit seinem Großvater über den Kommunismus, von seinen Begegnungen mit Radio Free Europe, von seinen Fernschachpartien mit den Schülern von Andronows Schachakademie, bis man ihn schließlich in seine Zukunft abkommandierte. Und er erzählte vom Schach als seinem einzigen Ausweg aus der Einsamkeit und wie überwältigend diese Einsamkeit gewesen war, bis sie eines Tages an seine Tür geklopft hatte.
    Elisabeta nahm ihre Hausschuhe mit in sein Zimmer, damit sie nicht vor der Tür den Nachbarn auffielen, doch wie die meisten Geheimnisse in der Kommunalka blieb auch dieses nicht lange geheim. Die Wände waren dünn. Alexander konnte seine Nachbarnniesen und sich nachts herumwälzen hören. Er versuchte, nicht daran zu denken, was sie von ihm und Elisabeta mitbekamen, doch das war nicht ganz leicht, wenn die Verwalterin ihn im Flur voller Genugtuung düster anfunkelte oder der Mann, der so ungern mit Prostituierten zusammenlebte, ihm männlich auf die Schultern hieb. »Hoffe, sie gibt dir Rabatt, Towarischtsch«, sagte der Mann.
    Alexander zuckte zusammen, sagte aber nichts. Er war zu glücklich dazu.
    Es war bemerkenswert, wirklich erstaunlich, wie er absolut ununterbrochen an Elisabeta denken konnte. Andere Gedanken kamen und gingen; sie titschten über die Oberfläche eines riesigen Bewusstseinsreservoirs, das ganz allein ihr gewidmet war. Alexander konnte sich zu seiner eigenen Verwunderung durchaus intelligent und tiefgehend mit anderen Dingen – vielen anderen Dingen – beschäftigen, ohne Elisabeta je zu vergessen. Sie hatte in seinem Kopf eine bestens befestigte militärische Besatzungszone eingerichtet. Das belebte Alexander. Es machte ihn schlagfertiger im Gespräch mit Iwan und Nikolai, trieb ihn an, sich bei allem mehr Mühe zu geben, brachte ihn dazu, sorgfältiger als je zuvor seine Knöpfe anzunähen, seine Haare zu kämmen und seine Kleidung auszuwählen. Iwan sagte einmal sogar, er sei offenbar darüber hinweggekommen. Es klang, als wollte er sagen, dass Alexander über seine gesamte frühere Persönlichkeit hinweggekommen war, und so fühlte er sich auch.
    Eine merkwürdige Empfindung hatte sich in seinem Brustkorb festgesetzt, ein

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