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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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Tode gefoltert. Weibliche Heilige erwarben ihren Status fast immer durch tödlichen Sexverzicht. Vielleicht, überlegte ich, sollte ich versuchen, mich kanonisieren zu lassen. Dann hätte ich zumindest zu tun.
    »Sie war die Ehefrau Wassilis des Dritten.«
    »Ah, verstehe.«
    »Sie konnte ihm keinen Stammhalter schenken – so ist es immer bei den Mächtigen, oder? Immer kriegen die falschen Frauen die Kinder, und dann wird wieder irgendjemand verbannt oder umgebracht. Solomonija wurde jedenfalls in ein Kloster verbannt, damit Wassili neu heiraten konnte. Und siehe da, neun Monate darauf gebiert sie einen Sohn.«
    Ich zog die Augenbrauen hoch und versuchte schockiert auszusehen, obwohl ich eigentlich gar nicht in der Lage bin, schockiert zu sein. Elisabeta warf dem Vogel wieder ein Keksstückchen zu.
    »Solomonija hat natürlich Angst um ihr Kind und lässt es für tot erklären. Niemand weiß, was aus dem Jungen geworden ist. Und dabei bleibt es, bis sie bei den Ausgrabungen 1934 Solomonijas Überreste finden – mit einer kleinen Babypuppe im Arm.«
    »Also hat der Junge überlebt.«
    »Er hat überlebt, und rein technisch gesehen hätten seine Erben Anspruch auf die Herrschaft über ganz Russland gehabt – nicht dass das unbedingt so wünschenswert wäre, und nicht dass heutzutage überhaupt noch jemand an solche Ansprüche glaubt.«
    »Warum haben Sie sie dann dort hingehängt?«
    »Sie sieht nicht so aus, als ob es ihr da oben gefällt, oder?«, sagte Elisabeta. Solomonijas Verachtung regnete förmlich von dem Bild auf uns herab. In ihren Augen lag die stummer reglose Wut der Verleugneten, Weggesperrten und Vergessenen der Geschichte.
    »Nein, sieht sie nicht.«
    »Ich weiß auch nicht. Ich interessiere mich eben dafür, wie die Dinge anders hätten laufen können. Für Augenblicke, in denen die Dinge sich in eine bestimmte Richtung entwickeln könnten und dann doch eine andere Wendung nehmen.«
    Ich dachte an den Brief meines Vaters und an sein Interesse an jenem ganz anderen Augenblick, wenn man feststellt, dass sich die Ereignisse zwar in alle möglichen Richtungen entwickeln könnten , aber nur einen ganz bestimmten Weg einschlagen, dem man folgen muss, so unerträglich es auch sein mag.
    »Ist das nicht in jedem beliebigen Augenblick so?«, fragte ich.
    »Nicht gleichermaßen, würde ich inzwischen sagen«, antwortete sie leichthin und begann wieder zu husten. Als sie diesmal wieder zu sich kam, ließ ich einen Augenblick der Pietät oder Solidarität verstreichen und fragte dann: »Wie war Alexander denn so?«
    »Wie er war?«
    »Na, Sie wissen schon. Was hat er den ganzen Tag gemacht?«
    »Wer weiß das schon so genau? Was tun Menschen überhaupt? Ich bin damals davon ausgegangen, dass er sich meistens die Zeit mit seinem Spiel vertreibt. Meine Freundin und ich – ich habe damalsmit meiner Freundin Sonja zusammengewohnt – sind manchmal zu seiner Tür geschlichen und haben gelauscht. Sonja hatte alle möglichen Theorien über ihn; sie dachte, er wäre eine Art Perverser, ein Spinner oder ein Serienmörder. Oder vom KGB.« Elisabeta drehte sich zu Fjodor um und spitzte die Lippen, und ich wusste gleich, dass sie nur ihr Gesicht davon abhalten wollte, unwillkürlich etwas Verräterisches zu tun. Ich habe genug Erfahrungen mit mimischen und emotionalen Täuschungsmanövern gesammelt, dass ich sie sofort bemerke. Elisabeta und Alexander mussten ein Paar gewesen sein.
    »Und was war Ihre Theorie?«
    »Ich dachte nur, dass er ein netter Junge ist. Nein, nicht nett. Interessant und nicht ganz leicht zu verstehen. Ich mochte ihn.« Elisabetas Gesicht wechselte unmerklich die Farbe, und sie sah zu Solomonija hoch, die feindselig zurückstarrte. »Aber wir hatten nicht lange miteinander zu tun.«
    »Was haben Sie damals gemacht?«
    »Als Sekretärin gearbeitet«, sagte sie und wandte den Blick ab. Schlagartig kam mir die unangenehme Erkenntnis, dass sie sehr wahrscheinlich für die Partei gearbeitet hatte. Elisabeta wirkte so respektlos, dass ich nicht von allein daraufgekommen war. Doch damals war fast jeder Teil der Maschinerie gewesen – die Schlauen und die Zynischen, die lustlosen Durchlavierer genauso wie die glühenden Fanatiker. Also hatten ihr Männer mit abwegigen wirtschaftstheoretischen Ansichten Diktate gehalten – was hieß das schon? Und was wusste ich davon? Mir fiel auf, dass Elisabeta immer noch in eine unbestimmte Ferne sah.
    Sie trank einen Schluck Tee. »Unsere Freundschaft währte nicht

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