Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
Vom Netzwerk:
bedeutete, dass ein festlicher Abend gekommen und unweigerlich wieder gegangen war.
    Ich war kurz nach meiner Begegnung mit Elisabeta nach St. Petersburg umgezogen, hatte meine klammen Kleider und Nikolais Adresse in den Koffer geknüllt und mich in einen Nachtzug gesetzt. Von meinem Reisepass hatte ich zwei Kopien gemacht, die ich in meinem linken Schuh und einer Tamponschachtel versteckte. Im Zug fand ich einen Waggon für mich allein mit schmucken Antimakassars und einem satten Uringestank. Natürlich nahm ich mir vor, wach zu bleiben, und natürlich wachte ich mitten auf der Strecke davon auf, dass ein mittelalter Mann auf der anderen Seite des Ganges schnarchte und im Traum schmatzende Geräusche von sich gab. Am nächsten Morgen fühlte ich mich peinlich berührt und bloßgestellt, als hätte ich eine Nacht voller gravierender sexueller Fehltritte hinter mir. In St. Petersburg hatte ich ein Hostel gefunden, das mit seinen zugigen langen Fluren unddem leicht feindseligen Personal fast wie das in Moskau war. Dort blieb ich ein paar Tage lang und sammelte Mut für die neue Aufgabe, Nikolai ausfindig zu machen. Ich durchstreifte die Stadt, bewunderte die eindrucksvolle Architektur und die Statuen, verschwendete meine Zeit und mein Geld. Mein Russisch verbesserte sich ein wenig, wenn auch nicht so schnell, wie ich gehofft hatte. Ich war beinahe bereit, diesen Menschen anzurufen, ein Treffen auszumachen und mich den damit verbundenen Vergeblichkeiten, Absurditäten und Gefahren auszusetzen, als Nikolai mir zuvorkam.
    Ich hatte mir angewöhnt, mich die Nachmittage über in einem winzigen Café unweit des Hostels fröstelnd in Zeitungen zu vertiefen. In dem Café war es immer einige Grad kälter als draußen, und draußen herrschte selbst jetzt im Juli manchmal eine stumpfe Nachmittagskälte. Also trug ich mehrere Pullover und ein verschlafenes Gesicht, als sich ein massiger Mann mir gegenüber auf einen Stuhl fallen ließ und in gebrochenem Englisch fragte, ob ich Irina Ellison aus Amerika sei.
    Ich erschrak. Das Gesicht des Mannes sah aus wie mit Stahlwolle geschrubbt; sein Kopf hatte die Größe, Form und Härte eines Footballhelms. Ich sah nach, ob er eine Marke oder einen Ausweis in Händen hielt, und war erst erleichtert, dann verwirrt und schließlich beunruhigt, weil dem nicht so war. Ich wusste nicht recht, ob es klug war, einen Mann wie ihn zu belügen.
    »Ja, so heiße ich«, sagte ich. »Und wer sind Sie?«
    »Ich bin Nikolai Sergejewitsch«, sagte der Mann. »Sie haben nach mir gesucht, habe ich gehört.« Das feine Netzwerk länglicher Narben, das sein Gesicht überzog, machte ihn aus der Entfernung zu einer fast comichaft finsteren Erscheinung. Von nahem sahen sie einfach wie Aknenarben aus.
    »Ich habe nach überhaupt niemandem gesucht«, sagte ich. »Ich habe es nur vorgehabt.«
    Nikolai rieb seine Hände aneinander. Als er sich umwandte, um per Handzeichen einen Kaffee zu bestellen, sah seine Wange in dem veränderten Licht wie ein marmoriertes Stück Schinken aus.Er war fett, und es war die Sorte Fett, die sich durch heftiges Atmen und schwer rollenden Speck deutlich bemerkbar macht.
    »Soweit ich informiert bin, suchen Sie nach Alexander Besetow«, sagte er. »Ich will Ihnen helfen, ihn zu finden.«
    »Warum?« Der Keller brachte eine winzige Tasse Kaffee, und Nikolai bedankte sich mit einem Grunzlaut.
    »Wir waren seinerzeit gute Freunde«, sagte Nikolai, nippte an seinem Kaffee und verzog missbilligend das Gesicht. »Sandkastenfreunde, sozusagen.«
    »In Ocha?« Das kam mir unwahrscheinlich vor.
    »Nicht ganz so früh«, sage Nikolai. »Eher von Jugend an. Wir haben uns zu Sowjetzeiten als junge Männer gekannt.«
    »Ah«, sagte ich. Eine ganze Reihe naheliegender Fragen ging mir durch den Kopf: Woher wussten Sie, dass ich Ihre Adresse habe? Woher wussten Sie, dass ich auf der Suche nach Alexander Besetow bin? Woher kennen Sie meinen Namen? Mir kam der Rezeptionist im Hostel in den Sinn, dem ich so freimütig von meiner Mission und meinen Plänen erzählt hatte. Doch ich schwieg. Ich habe mich schon immer schwergetan, absurde Prämissen in Frage zu stellen, seien es die der anderen oder meine. Es wäre mir reichlich undiplomatisch vorgekommen, ihn zu fragen, wer zum Teufel er war und was zum Teufel er eigentlich wollte.
    »Dann sind Sie von der Botschaft?«, fragte Nikolai. Aus seiner Stimme sprach eine verhaltene Aggressivität, die er nur vorübergehend aus schierer Willenskraft

Weitere Kostenlose Bücher