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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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bekunden.
    »Also«, sagte ich. Mir wurde allmählich bewusst, wie beklemmend absurd es war, um die halbe Welt zu fliegen, um in einem russischen Wohnzimmer mit einer alten Frau und ihrem wehrhaften Vogel Smalltalk zu betreiben. »Sie haben gesagt, Sie hätten nicht direkt für Besetow gearbeitet.«
    Sie sah mich leicht amüsiert an. »Nicht wirklich, nein.«
    »Woher kennen Sie ihn dann?«
    »Eigentlich gar nicht. Wir haben damals im selben Gebäude gewohnt.« Ihre bis dahin kräftige Stimme klang auf einmal wie von Efeu erstickt. »Entschuldigung«, sagte sie und stürzte sich in einen so lang anhaltenden, heftigen Hustenanfall, dass ich wegsehen musste. Ihre schmalen Schultern bebten. Grauenhaft reißende Geräusche drangen aus ihrer Brust. Ihr Husten steigerte sich zu einem wilden, unversöhnlichen Heulen, wie der Ausdruck eines chronischen, universellen Schmerzes. Als sie sich allmählich wieder fing, hingen kleine Blutklumpen in ihrem Taschentuch.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich, obwohl ganz offensichtlich nicht alles in Ordnung war. Ich kannte die Plattitüden, mit denen Menschen auf extremes Leid reagieren, die Trostfloskeln und phrasenhaften Nettigkeiten, aus eigener Erfahrung und ärgerte mich, dass ich nichts Besseres zu sagen hatte.
    »Alles bestens«, krächzte sie.
    »Ist das … Sind Sie … Ich meine …«, sagte ich und verpulverte damit meinen gesamten Vorrat an idiotischen Floskeln auf einmal.
    Plötzlich hatte ich Mitleid mit Jonathan, mit meiner Mutter, mit den Ärzten, mit allen, die sich um mich bemüht und versagt hatten, und dann traf sie das unbarmherzige Urteil meines enttäuschten, weidwunden Blicks.
    »Es ist keine Tuberkulose«, sagte sie. Ein glänzendes Fädchen Blut hing an ihrer Unterlippe, aber ich kannte sie nicht gut genug, um es ihr zu sagen. »Nichts Ansteckendes. Nur ein Emphysem. Verfluchte Raucherei.«
    »Müssen Sie … Sollten wir nicht zum Arzt?«, fragte ich mit Blick auf das blutbefleckte Taschentuch.
    »Noch nicht. Das Blut interessiert die Ärzte nicht. Ich gehe hin, wenn ich gar nicht mehr atmen kann. Es geht schon wieder.« In meinem Gesicht muss das nackte Grauen gestanden haben, denn sie fügte noch hinzu: »Ist nicht so schlimm, wie es aussieht.«
    Ich habe genug Zeit in Krankenhäusern verbracht, um zu wissen, dass dieser Satz so gut wie nie wahr ist, doch ich wusste ihre Haltung zu schätzen.
    »Wo waren wir gerade?«, fragte sie.
    »Bei Besetow.«
    »Ah, richtig, Besetow.« Ihre Stimme schien sich aus der Aschewolke des Hustenanfalls zu erheben – fedrig, kühl und beinahe unversehrt. »Ein netter junger Mann, soweit ich mich erinnere. Warum fragen Sie?«
    »Na ja«, begann ich zögernd. »Ich würde mich gern mit ihm treffen.« Inzwischen kam es mir unpassend vor, dieses Thema anzusprechen – als würde ich meine liebe alte Großmutter auf ein Tässchen Tee besuchen, nur um sie über ihr Testament auszufragen.
    »Glauben Sie mir, meine Liebe, wenn es so einfach wäre, sich mit Alexander zu treffen.« Sie verstummte, und ich fragte mich, ob dieser Abbruch mitten im Satz eine Art Übersetzungsproblem war. »Warum genau möchten Sie sich mit ihm treffen?«
    »Mein Vater hat ihn bewundert, und die beiden standen in Kontakt«, sagte ich dümmlich. »Genauer gesagt hat mein Vater versucht, mit ihm in Kontakt zu treten, und Besetow hat nicht zurückgeschrieben. Aber Sie.«
    »Ach ja?« Sie zog die Augenbrauen hoch.
    Ich holte die kleine Notiz hervor und zeigte sie Elisabeta. Sie starrte den Zettel eine Zeitlang schweigend an.
    »Das waren doch Sie, oder?«, fragte ich. »Ist das Ihre Unterschrift?«
    »Ja. Mein Gott, hatte ich eine Sauklaue. Aber ich kann mich nicht erinnern, das geschrieben oder den Brief gelesen zu haben. Tut mir leid.«
    Ich sah zu Boden.
    »Was erwarten Sie denn von ihm?«, fragte Elisabeta und reichte mir den Brief zurück.
    »Ich habe diese … diese Krankheit. Und ich interessiere mich für Schach«, sagte ich. Elisabeta zeigte keinerlei Regung. Sie sah mich nur an, rückte ihre schwarze Kleidung zurecht und wartete, dass ich etwas Verständliches von mir gab. »Ich konnte nicht mehr zu Hause bleiben«, schloss ich.
    »Und dann sind Sie nach Russland gefahren, um einen Dissidenten durch den Schnee zu jagen? Eine merkwürdige Freizeitbeschäftigung. Er ist Tag und Nacht von Leibwächtern umgeben. Sie sind doch über die Situation informiert, oder nicht?«
    »So halbwegs«, murmelte ich. Ich fühlte mich schockierend dämlich: eine

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