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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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erträgt.
    »Kommst du zurück?« In seiner Stimme lag das hölzerne Knarren eines Mannes auf der Grenze zwischen Schlaf und Wachen – mit dem ich, fiel mir auf, nie wirklich vertraut geworden war.
    Ich überlegte, obwohl es nichts zu überlegen gab. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
    Er schwieg, doch es klang nicht wie ein Schweigen kurz vor dem Auflegen. Es klang wie die Sorte Schweigen, die leise atmend abwartet und dich über die dunklen Weiten des Ozeans hinweg glühend hasst.
    »Können wir nicht Freunde sein?«, fragte ich und hätte mir dafür beinahe selbst den riesigen Hörer aus der Breschnew-Ära über den Schädel gezogen.
    »Was stellst du dir darunter überhaupt noch vor?«
    »Ich meine, ob wir nicht miteinander im Reinen sein können.« Das war es, was ich mir wirklich wünschte, wurde mir bewusst. Es wäre zumindest erträglich, wenn wir Freunde waren, wenn wir in irgendeinem unsichtbaren kosmischen Kassenbuch einen Ausgleich erreichen konnten. Nicht erträglich wäre es, wenn er mich dort drüben in Boston hasste oder vergaß. Wenn er sein Bild von mir zurechtrückte, bis er unsere Beziehung mühelos als pathologischen Fehlgriff verbuchen konnte oder als Lehre fürs Leben oder als Krug, der an ihm vorübergegangen war.
    »Das ist einfach nur beleidigend«, sagte Jonathan. »Was soll ich dazu noch sagen? Vergiss es. Ich will gar nicht wissen, was ich dazu sagen soll.«
    »Es tut mir leid«, sagte ich, ein Satz, der mit jedem Gebrauch immer schaler und schaler wird. Wir schwiegen beide. Manchmal wünsche ich mir, ich hätte das Unwissen, den grausamen Optimismus auf mich genommen und auf die Diagnose verzichtet.
    »Wie geht es dir so?«, fragte ich.
    »Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich das beantworte. Du hast gar nicht das Recht, mich so etwas zu fragen.«
    »Okay.«
    »Du hast diese ganze Sache nicht erfunden, weißt du«, sagte er.
    »Was?«
    »Du hast es nicht erfunden. Niemand zwingt dich, so damit umzugehen. Es gibt Leute, die es ganz anders machen. Wir beide hätten es anders machen können.«
    Ich war nicht ganz sicher, ob ich wusste, wovon er redete, aber wahrscheinlich schon. Und wahrscheinlich hatte er recht. Es gibt Leute, die es anders machen, die beten und alternative Therapieformen ausprobieren und dankbar für alles sind, was ihnen bleibt. Dass ich das nicht konnte, lag nur an meinem Egoismus, meiner Unreife und meiner gottlosen Verehrung intakter menschlicher Hirntätigkeit. Ich war alles andere als stolz darauf. Aber ich konnte nicht heimfahren und es so machen wie die anderen – mich von meinen besten Eigenarten abwärts in Nichts auflösen und mich von einem Mann füttern lassen, der mich noch nicht einmal hatte weinen sehen.
    »Ich habe dich wirklich geliebt«, sagte er.
    »Tja«, sagte ich und wusste, dass ich gleich danach würde auflegen müssen. »Das war wohl der erste große Fehler.«
    St. Petersburg war vollkommen anders als Moskau, ganz von Reißbrett-Straßen, prachtvollen Alleen und stilistisch einheitlicher Architektur geprägt. Auf der Teatralnaja Uliza sah es aus, als wollten die Gebäude tanzen. Lange Schnüre eiskalten Sonnenlichts folgten exakt den vorgeschriebenen Bahnen und drapierten sich in säuberlichen rechten Winkeln um die Gebäudeecken. Auch die Gerüchewaren anders. In beiden Städten gab es Orte, die schlecht rochen – unverzeihlich, teuflisch, ausfällig schlecht. Der Gestank in einer Ecke nahe des Hostels in Moskau vernebelte beinahe die Sicht; die Knie sackten mir weg, und meine Seele lahmte, wenn ich ihm ausgesetzt war. Er wirkte wie ausgedacht, wie vorherbestimmt. So ein Geruch konnte unmöglich ohne übernatürliche Einflüsse organisch entstanden sein. Wie manche von der Komplexität des Universums auf das Wirken Gottes schließen, sehe ich die abstoßende Vielschichtigkeit dieses Pesthauchs als Indiz für die Existenz des Teufels. In St. Petersburg gab es den erdig-staubigen Geruch von Auberginen, darunter einen halbherzig salzigen Meeresgeruch wie von einem brackigen Aquarium und darunter wiederum den fleischlicheren, wilderen Geruch von Eisberg und Wal. In den Gassen roch es nach verklebtem Wodka und Bier, von dem nächtlichen Tau verdünnt und von dem indirekten Licht eines halben Tages vergoren, und dieser Geruch presste mir jedes Mal mit kalten dürren Fingern die Rippen zusammen, so sehr erinnerte er an fallengelassene Hoffnungen, umgestoßene Pläne, an die lehrreiche Konfrontation von Wünschen mit der Realität. Er

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