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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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trauern. Um ihren Mund herum bemerkte ich etwas Spöttisches, den zittrigen Beinahe-Ausbruch eines Lächelns. Ich erkannte diesen Ausdruck, weil sich auch mein eigenes Gesicht manchmal so unvorteilhaft verzieht, wenn ich besonders ernst aussehen will, während ich etwas komisch, merkwürdig oder lächerlich finde.
    »Ah«, sagte sie. »Sie sind Irina. Das Mädchen, das keine Journalistin sein will.«
    »Ja.« Ich fragte mich, wann mich zuletzt jemand als Mädchenbezeichnet hatte. Sämtliche Amerikaner, die auf die Idee kämen, mich so zu nennen, hätten wahrscheinlich Angst, verklagt zu werden. Selbst Lars, dem man so etwas noch am ehesten zugetraut hätte, ließ sich von meinem biblischen Alter und meiner vermeintlichen Sprödigkeit Männern gegenüber davon abhalten.
    »Na dann, kommen Sie rein«, sagte sie. »Wenn Sie weiter da herumstehen und so hoffnungslos amerikanisch aussehen, wird Sie noch jemand sexuell belästigen.«
    Sie führte mich durch den vollgestopften, staubigen Laden, dessen Wände fast vollständig mit Propagandaplakaten aus der Sowjetzeit tapeziert waren. Über der Kasse sah man auf einem von ihnen muskulöse Bauern auf einem leuchtend grünen Feld arbeiten, über dem ein Banner prangte: »Ihr seid die Erbauer des neuen Lebens!« Ich folgte Elisabeta eine klaustrophobisch dunkle Stiege hinauf in ihre Wohnung. Das Wohnzimmer war sauber und beinahe leer. Ein paar schwarz gerahmte Fotografien zierten die Wände, und die Bücher in den Regalen waren sorgfältig nach Farben sortiert: An einer der Wände zogen sich die Grüntöne entlang, an der nächsten gingen Blautöne in Schwarz über. Ein klappriger Schaukelstuhl in der Mitte des Raums bewegte sich gerade genug, dass es aussah, als säße ein besonders unterernährter Geist darauf. In einer der hinteren Ecken hing ein Drahtkäfig, aus dem ein smaragdgrüner Vogel hervoräugte.
    »Werden Sie Tee haben wollen oder so?«, fragte Elisabeta und betrachtete mich misstrauisch von oben bis unten.
    Ich nickte. Ich war erleichtert, dass sie so gut Englisch sprach; Verachtung ausdrücken zu können ist einer der zuverlässigsten Indikatoren fließender Sprachkenntnisse.
    Sie öffnete eine Tür in die gelb eingerichtete Küche, und ich erhaschte einen Blick auf einen zischenden Gasherd, rosa Blumensträuße auf der fleckigen Tapete und ein paar Fotos, die mit Tesafilm an einem kleinen, nicht magnetischen Kühlschrank befestigt waren. Ich wartete. Im Wohnzimmer roch es nach Staub und künstlichem Zimt – dem Kerzenaroma, nicht dem Gewürz. Derkleine Vogel plusterte wichtigtuerisch sein Gefieder, und ich ging hin, um ihn mir anzusehen. Sein auf mich gerichtetes Auge war schwarzgefleckt wie Vulkangestein.
    »Das ist Fjodor«, sagte Elisabeta, die mit einem Tablett zurück ins Wohnzimmer kam.
    Fjodor blinzelte. »Ein netter Vogel«, sagte ich.
    »Eigentlich nicht«, sagte sie. »Und er lässt sich ganz schön Zeit abzutreten. Er hat mehrere meiner sehr viel netteren menschlichen Freunde überlebt.«
    Sie stellte den Tee und einen Teller staubig aussehender Kekse ab und setzte sich in den Schaukelstuhl. Ich nahm auf dem zerschlissenen Sofa Platz, auf dem sich ein grelles Rosenblütenmuster rankte. An der Wand gegenüber fiel mir das dunkel getönte Porträt einer ernst dreinblickenden, edel gekleideten Dame auf.
    »Haben Sie Haustiere?«, fragte Elisabeta. Ihr Schaukelstuhl klapperte metallen auf den Bodendielen. Ich musste wohl bemitleidenswerter wirken, als ich gedacht hatte, wenn sie sich jetzt schon auf derart bodenlosen Smalltalk verlegte. »Es bringt eine Menge Verpflichtungen mit sich.«
    »Ich habe es nicht so mit Verpflichtungen«, sagte ich und merkte selbst, wie kindisch es klang. Ich biss in einen Keks, um mich von weiteren Dummheiten abzuhalten. Er zerbarst in meinem Mund zu einer Staubwolke. Ich legte ihn zurück und drapierte meine Serviette über den Tellerrand.
    »Tut mir leid«, sagte sie und blickte auf das verschmähte Gebäck, ohne übermäßig zerknirscht zu klingen. »Ich bin nicht sehr häuslich, wissen Sie.«
    »Danke, dass Sie sich mit mir treffen«, sagte ich und nippte an meinem Tee. Elisabeta zuckte mit den Schultern. »Ich habe auch nicht besonders viele Verpflichtungen. Bloß den verdammten Vogel.« Sie stippte ein Stück Keks in ihren Tee und warf es Fjodor zu, der es gierig verschlang. »Zumindest hat er nichts gegen meine Kochkünste einzuwenden.« Der Vogel wippte milde mit dem Kopf, als wollte er halbironisch seine Zustimmung

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