Das Leben ist groß
lang, und dann war es zu spät.«
»Zu spät?«
»Na ja, dann war er berühmt. Das waren andere Zeiten, wissen Sie. Als Sekretärin muss man ziemlich viel Egomassage betreiben, selbst in den Büros unserer großen sozialistischen Utopie. Das konnte ich nicht auch noch unbezahlt in meiner Freizeit tun.«
»Das klingt ja sehr prinzipienfest«, sagte ich. Es kam viel bissiger, als ich es gemeint hatte.
Ein schreckliches Schweigen folgte. »Bestimmt müssen Sie langsam in Ihr Hostel zurück«, sagte Elisabeta und stand auf. Ich tat es ihr nach. Ich wollte nicht sitzen bleiben und einer wütenden Russin – selbst einer schwachen, hustenden Russin – den Luftraum überlassen. Elisabeta war zierlich, aber sie gehörte zu den Leuten, bei denen einem unwohl werden kann, wenn sie einen mit so einem gewissen Blick ansehen.
»Es tut mir leid, wenn ich Sie verletzt habe«, sagte ich. Den Satz hatte ich mir von meinen Liebschaften am College geborgt.
Elisabeta lachte, und ihr Lachen klang wie rissiges Eis auf einem unentdeckten Planeten. »Mich verletzt man nicht so leicht. Aber warten Sie.«
Sie verschwand in die Küche und kam mit einer gelben Karteikarte zurück, die sie mir überreichte. »Das sind die Kontaktdaten eines Mannes in Petersburg.« Sie hatte den Namen in unsicheren, übertrieben deutlichen lateinischen Buchstaben aufgeschrieben.
»Ist es ein Freund von Alexander?«
»Ein Mann, der mit Alexander in Kontakt kommen wollte. Aus derselben Branche wie Sie wahrscheinlich. Immer wieder hat er angerufen. Vielleicht hat er ihn ja inzwischen erreicht.«
Ich wusste nicht, was sie mit »derselben Branche« meinte. War er ein entflohener Hochschul-Lehrbeauftragter? Jemand, der von Berufs wegen todkrank in fremden Ländern umherirrte? Ich las seinen Namen. Nikolai Sergejewitsch Tschernow, Wassiljewski Ostrow 132, St. Petersburg.
»Danke«, sagte ich, »das hilft mir bestimmt sehr weiter.« Wieder ein Wildfremder, den ich anrufen musste, dachte ich. Na toll. Ich wurde allmählich zur Spezialistin für Kaltakquise, zur hundeäugigen Telemarketing-Showmasterin in eigener Sache.
»Finden Sie zurück?«, fragte sie.
»Ich nehme ein Taxi.«
Elisabeta sah mich gleichmütig an. »Sie wissen hoffentlich, dass manche Taxifahrer gar keine sind.«
»Wie bitte?«
»Einige sind in Wirklichkeit Räuber.«
»Und woran erkennt man, welche welche sind?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Das kann man wohl nur ausprobieren.«
Plötzlich hatte ich gründlich genug von Elisabeta, von ihren kaputten Lungen, ihrem verkniffenen Vogel und ihrem Bildnis einer Frau, die irgendwie ihr Schicksal verfehlt hatte. Ich fragte mich, warum ich dauernd mit Leuten zu tun bekam, die unbedingt in Rätseln sprechen oder in Sprichworten und Andeutungen kommunizieren mussten. Lars war genauso und konnte sich nicht einmal damit herausreden, in einem Polizeistaat aufgewachsen zu sein.
»Viel Glück«, sagte Elisabeta, und ich bedankte mich und trat in die Dämmerung hinaus. Vorbeifahrende Autos streiften mit ihren Lichtkegeln die Abfalltonnen. Ich musste eine ganze Weile im Kreis laufen, bis ich ein Taxi fand.
Am folgenden Nachmittag ging ich Moskau erkunden. Ich bewunderte die Jugendstilarabesken und die klassizistischen sonnenuntergangsfarbenen Fassaden der postkommunistischen Gebäude. Ich blickte zu der gigantischen Statue Peters des Großen auf, die über der Moskwa aufragte. Ich stromerte durch den Gorki Park und sah, wie Eltern Geld bezahlten, um ihren kleinen Peter oder ihre Iwanka mit einem deprimierten, flohgeplagten Tiger fotografieren zu lassen. Torffeuer im Osten hatten die Stadt aufgeheizt, und ich streifte abends schwitzend durch den Skulpturenpark und zählte die bleichen Rosen zu Füßen Lenins. Am Tag darauf rief ich Jonathan an.
Meine erste Begegnung mit der Telefonkarte war eine Katastrophe mit so vielen strengen Ermahnungen von der Vermittlung, dass ich mich schon elend fühlte, bevor Jonathan überhaupt abgenommen hatte. Als er es tat, hörte ich gedämpfte Unterwassergeräuscheund war einen endlosen, quälenden Moment lang überzeugt, er sei nicht allein zu Hause.
»Hallo?« Er klang beunruhigt, und mir wurde klar, dass es bei ihm vier Uhr morgens sein musste.
»Tut mir leid«, sagte ich. Es war nichts zu hören, doch in dem Schweigen des Telefons schien sich eine bestimmte Haltung auszudrücken – Hohn oder Fassungslosigkeit oder die Erschöpfung eines Erwachsenen, der die egoistischen Albernheiten eines Kindes nicht mehr
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