Das Leben ist groß
zurückzudrängen schien, als hätte ihn jemand im Vorhinein streng ermahnt, nett zu mir zu sein.
»Nein«, sagte ich.
Nikolai wirkte überrascht. »Verstehe.« Sein zerfurchtes Gesicht verzerrte sich zu einer sorgenvollen Grimasse, als fürchtete er, mich beleidigt zu haben. »Jedenfalls denke ich, wenn wir unsere Informationen austauschen, können wir einander helfen, meinen alten Kumpel Alexander Besetow zu finden.«
»Ich habe gar keine Informationen.«
»So«, sagte Nikolai und ließ sich mit einem fetten Schmatzen inseinen Stuhl zurücksinken. »Und wie würden Sie Ihre Rolle in der Botschaft genau beschreiben?«
Es war wirklich verwirrend.
»Ich gehöre nicht zur Botschaft«, sagte ich. »Ich bin hier nur im Urlaub.«
Nikolai musterte mich einen Augenblick – meine übereinandergeschichteten Pullover, den grauen Tee, der vom Tassenrand in die Zeitung sickerte. »Im Urlaub«, sagte er. »Verstehe. Sie sollten nur wissen, dass Sie sich registrieren lassen müssen, wenn Sie für die Botschaft arbeiten.«
»Aber das tue ich nicht.«
»Es ist uns nämlich nicht entgangen, dass Sie bis jetzt nicht registriert sind.«
»Ich weiß überhaupt nicht, wovon Sie reden«, sagte ich wahrheitsgemäß. »Wer sind ›wir‹?« Und dann, weil mir sein Gesicht nicht passte, das mich ansah wie ein sehr schlechtgelauntes Schnitzel, fragte ich endlich: »Und wer zum Teufel sind Sie?«
»Hören Sie«, sagte er und beugte sich vor. Er roch überraschend zart nach teurem Lavendelshampoo und betont maskulinem Aftershave. »Wir müssen uns ja nicht gleich heute entscheiden. Ich habe Ihnen schon gesagt, wer ich bin. Ich bin auf der Suche nach einem alten Freund.«
»Sie haben mir nicht wirklich gesagt, wer Sie sind. Warum suchen Sie nach ihm?«
»Und warum Sie?«, konterte er.
Ich schwieg einen Augenblick. »Hauptsächlich, weil mein Vater ihn fast persönlich kannte«, sagte ich. »Und weil ich nicht zu Hause bleiben konnte.« Mir wurde klar, wie das klingen musste – dämlich und verdächtig zugleich, wie das lose gestrickte Alibi einer dilettantischen Spionin.
»Okay«, sagte Nikolai. »Es geht um Ihren Vater. Na schön.« Er gab mir seine Visitenkarte, die aussah, als hätte er mehrere Adressen und unwahrscheinlich viele Telefonnummern. »Rufen Sie mich an, wenn Sie an einer Kooperation interessiert sind.«
Ich sagte nichts, weil mir nichts einfiel, was ich hätte sagen können. Nikolai stemmte seine Körpermasse in die Senkrechte. »Also. Vielleicht hören wir voneinander. Bis dahin«, er klatschte ein paar Rubel für seinen Kaffee auf den Tisch, »sollten Sie Ihren Auftraggebern sagen, dass Sie registriert sein müssen.«
Er stapfte davon und ließ seine halbvolle, noch immer dampfende Tasse auf dem Tisch zurück. Erst als er im grauen Nieselregen verschwunden war, begann ich mich zu fragen, wie er mich überhaupt hier gefunden hatte.
Von da an fiel es mir immer schwerer stillzuhalten. Die Mücken im Hostel hielten mich wach; ich verbrachte halbe Nächte damit, mich selbst zu ohrfeigen und wilde Beschimpfungen auszustoßen, was beides nicht half. Juckende Quaddeln bedeckten meine Füße, Unterschenkel und Knie. Ich sah versehrt aus, aussätzig. Vielleicht war es St. Petersburgs Art, mir zu verstehen zu geben, dass ich verflucht noch mal endlich heimfahren sollte. Doch das tat ich nicht. Die Stiche juckten und platzten auf und hinterließen kleine staubfarbene Narben, und ich fuhr immer noch nicht heim. Irgendwann wurde ich unempfindlich gegen sie – wie gegen manches andere auch.
Die Luft war schwer von auflandigen Winden. Es kam die Zeit der weißen Nächte, und der Himmel blieb bis zum Morgen perlgrau und wolkengestreift. Zu schlafen kam gar nicht in Frage. An den Ufern der Newa versammelten sich abends die Jugendlichen, rauchten und jonglierten mit Feuerfackeln, und ich gesellte mich zu ihnen – wanderte den Fluss entlang, verlor mich im Azurblau des Himmels und sah mir die Klappbrücke an, deren aufgestellte Seiten wie die Kiefer eines erschossenen Tiers in die Höhe ragten. Die Newa würde dieses Jahr nicht über die Ufer treten, hatte ich gelesen. Das geschah regelmäßig, wenn nordatlantische Tiefdruckgebiete sich landeinwärts bewegten und stehende Wellen aufschaukelten. In den Jahren 1824, 1924 und 1998 hatte es katastrophale Überschwemmungen gegeben. Oft betrachtete ich die Newa mit ihren Lichtreflexen unter der mitternächtlichen Abendsonne undversuchte mir vorzustellen, dass all ihre Schönheit
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