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Das Leben ist groß

Das Leben ist groß

Titel: Das Leben ist groß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Dubois
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nur Tarnung war. Aus irgendeinem Grund gefiel mir die Vorstellung sogar, wie sich das Wasser zu einer riesigen Spirale formierte und gewaltige Wellen übereinandertürmte, wie der Fluss die Brücke überspülte, bis sie sich aufbäumte und brach. Natürlich war jede Art von Katastrophe grauenerregend. Aber vielleicht waren die am schlimmsten, die man kommen sah und doch nicht verhindern konnte: ein Meteorit auf Kollisionskurs mit der Erde, eine kleingedruckte tödliche Diagnose oder ein Tiefdruckwirbel vor der Ostseeküste.
    Spät nachts lag ich oft in meinem Bett und dachte zurück. Ich erinnerte mich an meinen Vater, und diese Erinnerungen liefen immer rückwärts ab, von den jüngsten zu den ältesten. Ich dachte an seine rasselnden, flachen Atemzüge, bevor wir den Morphintropf aufdrehten, dann an die geisterhaft umherstaksenden Männer aus seiner Abteilung in der Pflegeeinrichtung, dann an seinen wackelnden Unterkiefer, seine tief ausgehöhlten Augen und die Hände, die pausenlos in Bewegung waren, als wollte er einen unsichtbaren, unendlich langen Rosenkranz auffädeln. Daran, wie er am Klavier saß und gar nicht mehr spielte oder nur zusammenhanglose Triller oder fehlerhafte Mozart-Sonaten. Und dann, lange davor, an Fußballspiele im Wohnzimmer, wenn meine Mutter nicht zu Hause war, an abendliche Schachpartien und zärtlich umarmte Bäume, als es längst aus der Mode war, Bäume zu umarmen.
    Ich erinnerte mich, wie ich am Ende seines Lebens meinem Vater in die Augen gesehen und versucht hatte, sie als die Augen des Mannes wiederzuerkennen, der mir Hauptstadtnamen und Harmonielehre beigebracht hatte. Doch es gelang mir nicht. Der Mann, der als mein Vater starb, war ein anderer als mein lebender Vater. Ich glaube, er selbst hätte das genauso gesehen.
    Im Herbst würde ich einunddreißig werden und damit in das Zeitfenster von drei Jahren eintreten, in dem siebzig Prozent aller Betroffenen mit meiner Anzahl von CAG-Tripletts die ersten Symptome zeigen. Danach gibt es Variationen in der Geschwindigkeit, mit dersich die Symptome verstärken, in der Dauer, wie lange bestimmte Fähigkeiten erhalten bleiben, und in der Lebenserwartung. Doch ich hatte nicht vor, diese Spannbreiten auszureizen. Eine Krankheit, die einem die kognitiven Fähigkeiten nimmt, zerstört auch die Fähigkeit, diese kognitiven Fähigkeiten selbst einzuschätzen. Man kann zwar beschließen, nicht als Zombie vor sich hin vegetieren zu wollen, und kann sich sagen, dass man nicht mehr man selbst ist, sobald man keinen Witz mehr erzählen oder keinen vollständigen Satz mehr schreiben kann, dass dann der einzigartige, wiedererkennbare und menschliche Teil seiner selbst verschwunden ist und man ein Leben als Nicht-Person nicht lebenswert findet. Aber wenn der Punkt erst einmal erreicht ist, denkt man – wenn man überhaupt noch denkt – anders darüber. Dann interessiert man sich nur noch dafür, warm, satt und schmerzfrei zu sein. Man wird bescheiden.
    Daher ist es nicht ganz leicht, seinen Abschied vorauszuplanen. Man muss klüger sein als das eigene zukünftige Selbst und irgendwie sicherstellen, dass die heutigen Prioritäten auch für die Entscheidungen von morgen gelten. Und dabei kann man sich auf niemanden verlassen, weil niemand – absolut niemand – bereit sein wird, einem zu helfen. Selbst der eigene Verstand wird einen früher oder später im Stich lassen.
    Also lag ich in jenen frühen St. Petersburger Nächten, nachdem Nikolai mich gefunden hatte, wach und dachte zum ersten Mal ernsthaft über meine Optionen nach. Ich wusste nicht, wie es anfangen würde – mit einem Zucken, einem Taumeln oder einem Ruck in der Halsmuskulatur –, doch es würde mir nicht entgehen, wenn mein Körper anfing, ohne Auftrag zu handeln. Also begann ich – während die Tage immer länger und länger wurden, während mein Bankkonto wie ein verletztes Organ auszubluten begann, die Nächte bis nach Mitternacht unwirklich grell waren und die Trinker unter dem Fenster ihre rohe, jugendliche Lebensfreude in die Dämmerung hinausbrüllten –, vorauszudenken. Dann zitterten meine Hände so sehr, dass ich mich fragte, ob sie noch einmal damit aufhören würden, ehe es begann.

KAPITEL 9
    Alexander
    Leningrad, 1982
    Ein Jahr verging, auch wenn Alexander im Nachhinein nicht hätte sagen können, wie. Er wusste noch, dass er angefangen hatte, auf eigene Rechnung Schach zu spielen; er hatte sich einen unfähigen Sekundanten zugelegt, Vadim, der wegen seiner ewigen

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